Kirill Petrenko

Ein Zauber, der bindet

Kirill Petrenko, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker Foto: dpa

Er stammt aus einer jüdischen Familie aus dem sibirischen Omsk, und er ist ein überzeugter Europäer – politisch und musikalisch. Kirill Petrenko, vor vier Jahren von den Berliner Philharmonikern zum siebten Chefdirigenten bestimmt, hat Beethovens Neunte für sein Antrittskonzert gewählt, um musikalisch deutlich zu machen: Konflikte glätten wir nicht, nicht mit Beethoven, und schon überhaupt nicht in den ersten drei Sätzen.

Da klingt die Musik, bevor sie jubelt und befreit, zunächst düster und zerrissen, dissonant bis in eine schmerzhafte moderne Klangwelt, manchmal kriegerisch, und selbst Kantilenen wirken wie schwere Seufzer.

Botschaft Er habe sich immer vorgestellt, so erzählte der 47-Jährige zuvor in der Pressekonferenz, man würde eine Botschaft an ferne Planeten senden und darin unsere Menschheit beschreiben: als Individuen und als Gesellschaft »mit all unseren positiven wie negativen Eigenschaften, mit allen fantastischen Kultureinrichtungen und auch all den schrecklichen Dingen, die wir gemacht haben in der Vergangenheit«.

Nirgendwo, so Petrenko, finde man eine bessere Beschreibung als in Beethovens neunter Sinfonie. »Sie enthält für mich all das, was uns als Menschheit auszeichnet, und zwar im positiven wie auch im negativen Sinne.«

GEFÜHLSWELT Die beiden Konzerte, jenes erste in der Berliner Philharmonie und das zweite einen Abend später als Open-Air-Event vor dem Brandenburger Tor, werden in die Musikgeschichte der Stadt eingehen. Musik zu beschreiben, heißt auch, die eigene Gefühlswelt zu befragen. Zwei Begriffe waren immer wieder zu hören unter den 2200 Gästen im komplett ausverkauften Konzertsaal und den 35.000 vor dem Brandenburger Tor: »magisch« und »beseelt«.

Petrenko ist ein Meister des Ganzkörperdirigats, er tanzt und schwebt, aber nie um des Effekts willen.

In der Tat gelingt es Petrenko, einen Zauber zu entfachen, der neben aller musikalischen Grandiosität vor allem seinem Charisma zu verdanken ist. Petrenko wirkt weder abgehoben noch stilisiert, sondern bescheiden, unendlich freundlich und sehr bezogen auf seine Musiker ebenso wie aufs Publikum.

Gangnam Style Zudem ist er ein Meister des Ganzkörperdirigats, er tanzt und schwebt, aber nie um des Effekts willen, er gibt den Takt vor, den Rhythmus und die Dramaturgie der Erzählung. Gleichzeitig bewegt das Orchester ihn, und zwar tänzerisch vom Tango über den Twist bis zum Gangnam Style. Petrenko ist musiküberformte Eleganz: in schwarzer Hose, schwarzer hochgeschlossener Jacke, schlank, extrem energetisch, ständig im Blickkontakt mit den 125 Musikern, den wunderbaren Solisten und dem zu Recht besonders bejubelten Rundfunkchor, den Gijs Leenaars einstudiert hat.

Die hinreißende, aparte Sopranistin Marlis Petersen, »artist in residence« bei den Berliner Philharmonikern, die Österreicherin Elisabeth Kulman mit ihrem herrlich warmen Alt, Benjamin Bruns als strahlender Tenor und der in Berlin immer wieder gefeierte koreanische Bass Kwangchul Youn harmonierten in fast überirdischer Weise miteinander.

»Deine Zauber binden wieder«, diese Zeile aus Schillers »Ode an die Freude« drückt aus, welch Glück und Glanz über beiden Abenden lag. Leicht kitschige Assoziationen gehörten dazu, das Wetter vor dem Brandenburger Tor war herrlich, das Sinnbild der Einheit blau angestrahlt, die Träume zur Musik durften also mitfliegen an jenen Ort, »wo dein sanfter Flügel weilt«. Es erging dem Publikum ähnlich wie dem Solocellisten und Medienvorstand der Philharmoniker, Olaf Maninger, der zugab, das Orchester sei »schockverliebt« in den neuen Dirigenten.

FREUDE In der Philharmonie hatte der Abend mit Alban Bergs »Symphonischen Stücken« aus der Oper Lulu begonnen, keinem leichten, eingängigen Werk der zweiten Wiener Schule. Marlis Petersen sang die Lulu ergreifend und dem Schicksal des frühen Todes trotzen wollend. Das Publikum reagierte noch verhalten, die Neunte allerdings geriet dann zum Triumph, der uns weiterhin erfreuen wird, denn Ludwig van Beethoven wird ein Schwerpunkt sein in der kommenden Saison: Das Konzert mit der Neunten ist auch der philharmonische Beginn der Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag des Komponisten.

In Baden-Baden und Berlin wird Kirill Petrenko Beethovens Fidelio dirigieren, am Festspielhaus zusätzlich die Missa Solemnis, die in der Saison darauf in Berlin erklingen soll. Noch einmal betonte Petrenko vor Journalisten Beethovens politische Relevanz – und zwar mit »drei Fs«: »In Beethovens Neunter geht es um Freude, in Fidelio um Freiheit, in der Missa Solemnis um Frieden. Ich vermute, jeder pflichtet mir bei, dass diese drei Begriffe heute enorm an Aktualität gewonnen haben, wenn man zurzeit sieht, was in Europa passiert. Das erfüllt uns alle wirklich mit Sorge. Man hat das Gefühl, dass man für diese lang etablierten Begriffe heute wirklich wieder kämpfen muss.«

Das Konzert ist auch der Beginn der Feierlichkeiten zu Beethovens 250. Geburtstag.

Die intellektuelle Offenheit, die weltgewandte Neugier und Petrenkos differenzierte politische Positionen machen den neuen Chef so grundsympathisch. Und seine Weigerung, einzelnen Journalisten Interviews zu geben? Ist das für unsere Berufssparte mit ihrer ständigen Jagd nach Neuigkeiten nicht eine Zumutung?

Chef Wer von den Kritikerinnen und Kollegen träumt nicht davon, ein grundlegendes erstes Interview mit Petrenko als Chef der Philharmoniker zu führen? Es wird nicht geschehen. Der Maestro ist ein besessener Arbeiter an der Partitur und nicht gewillt, immer wieder auf ähnliche Fragen das Gleiche zu antworten. Das mag für unsere Zunft kränkend sein. Ganz im Geheimen, verraten Sie es bitte nicht weiter, finde ich diese Haltung klug und grundsympathisch.

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025

Interview

»Die ganze Bandbreite«

Programmdirektorin Lea Wohl von Haselberg über das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg und israelisches Kino nach dem 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  16.04.2025