Herr Mihaileanu, Sie haben 1999 »Zug des Lebens« gedreht – einen Film mit schwarzem Humor über Juden, die sich selbst deportieren. Auch bei dem Spielfilm »Geh und lebe« (2005) über einen äthiopischen Jungen in Israel haben Sie die Handlung erfunden. »Die Geschichte der Liebe« dagegen ist eine Literaturverfilmung …
Ja, ich habe ein Buch mit einem sehr komplizierten Narrativ adaptiert. Die Geschichte der Liebe von Nicole Krauss ist brillante Literatur. Was mich daran gereizt hat, war nicht nur die Herausforderung, sondern ich identifiziere mich sehr stark mit der Geschichte. Die Hauptfigur, Leo Gursky, erinnert mich an meinem Vater.
In welcher Hinsicht?
Er hat alles überlebt: ein Arbeitslager in Rumänien während der NS-Zeit, er wurde während des kommunistischen Regimes als Antistalinist verfolgt, danach kam Nicolae Ceausescu, im Alter von 60 wanderte er aus Rumänien aus. Aber genau wie Leo hat mein Vater immer Humor und Freude bewahrt, im Bewusstsein tiefer Traurigkeit über das, was er erlebt hat. Er stammte aus Iasi, wo im Juni 1941 während des Krieges ein Pogrom in Rumänien stattfand. Zusammen mit meiner Mutter entkam er diesem Pogrom. Als ich das Buch las, packte mich die Geschichte von Leo, aber auch die Frage unserer Zeit: Sind wir heute noch fähig, romantisch und stark zu lieben? Oder träumen wir nur noch davon?
Wann haben Sie das Buch gelesen?
In Frankreich ist es 2006 erschienen. Ich habe es beim ersten Lesen geliebt, aber ich hätte nie daran gedacht, es zu verfilmen. Der größte Teil der Handlung spielt in New York, und ich dachte: Das können nur Amerikaner. Für uns ist es zu teuer und zu kompliziert, Geschichten aus fünf verschiedenen Epochen in New York zu drehen. 2013 kamen zwei Produzenten auf mich zu, die die Filmrechte gekauft hatten. Dann habe ich das Buch noch einmal gelesen – und die Handlung für das Drehbuch etwas vereinfacht.
Hat Nicole Krauss den Film gesehen?
Ja, und sie hat mir eine E-Mail geschickt und mir geschrieben, dass sie den Film liebt. Ich habe ihr zurückgeschrieben: Ich glaube dir nicht. Denn ich habe die Handlung stark verändert, und Literatur und Film sind zwei unterschiedliche Dinge. Ich freue mich immer noch darauf, nach New York zu kommen und mit ihr darüber zu sprechen, wenn der Film dort in die Kinos kommt.
Wie wichtig war für Sie die Auswahl der Schauspieler? Derek Jacobi sagte bei der Eröffnung des Jüdischen Filmfestivals Berlin & Brandenburg, er sei nur zweite Wahl gewesen.
Das ist eine traurige und wunderbare Geschichte zugleich. Denn der Schauspieler, der ursprünglich die Rolle von Leo übernehmen sollte, Sir John Vincent Hurt, erkrankte zwei Wochen vor Beginn der Dreharbeiten an Krebs. Leider ist er im Januar 2017 gestorben. Für mich und die Crew war das wie ein Erdbeben, aber John ermutigte mich und sagte: Dieser Film muss gedreht werden! Dann habe ich Derek Jacobi das Drehbuch geschickt. Und wir beide hatten Angst, ob das klappen würde. Bis er zum Set kam und zum ersten Mal den ersten Satz des Drehbuchs sagte: »Es war einmal ein Junge …« Und mir war sofort klar, dass er der Richtige war – Charles Chaplin und Laurence Olivier in einer Person. Jemand, der gleichzeitig komisch sein und tanzen kann, und innerlich sehr, sehr traurig. So ist das Leben, es schreibt manchmal die Geschichten: Ohne den Diktator Ceausescu hätte ich Rumänien nicht verlassen und wäre wahrscheinlich kein Filmemacher geworden, sondern beim Theater geblieben.
Sie haben in Rumänien jiddisches Theater gemacht, und auch im Film gibt es einige jiddische Sequenzen. Es wäre schön gewesen, mehr Jiddisch zu hören ...
Ich weiß. Aber das Problem hatte ich auch schon bei Zug des Lebens: Es gibt einige Schauspieler auf der Welt, die Jiddisch sprechen – in Israel, in den USA, und einige auch in Rumänien. Aber es sind nicht genug, und wenn man heute einen Film finanziert, braucht man auch Stars. Und die Schauspieler können nicht ihren ganzen Text auf Jiddisch lernen. Also habe ich sie Englisch sprechen lassen, aber mit einem jiddischen Akzent. Und manchmal habe ich auch jiddische Worte einfließen lassen. Wenn es allerdings um das Schreiben geht, das in der Geschichte eine große Rolle spielt, dann schreiben sie auf Jiddisch (Anmerkung: von rechts nach links). Es wäre nicht glaubwürdig gewesen, dass man im Schtetl auf Englisch schreibt.
Der traurigste Aspekt der Geschichte ist sicherlich, dass Leos Sohn Isaac niemals erfahren darf, wer sein Vater ist – weil Alma, die Mutter, das nicht will. Die Zeiten damals waren anders, ein uneheliches Kind war eine Schande. Aber warum, denken Sie, darf Isaac die Wahrheit nicht einmal nach dem Tod seiner Mutter erfahren?
Ja, Alma wirkt auf viele Zuschauer grausam, weil wir uns mit Leo identifizieren. Natürlich könnte sie ihrem früheren Geliebten erlauben, seinem Sohn zu sagen, wer sein Vater ist. Doch das würde die Beziehung zwischen dem Kind und seinem Stiefvater zerstören, der den Jungen aufgezogen hat wie seinen eigenen Sohn. An dem Tag, an dem Isaac die Wahrheit erfährt, würde er seinen Stiefvater als Lügner sehen. Alma versteht unter Liebe, andere Menschen glücklich zu machen – in diesem Fall ihren Sohn und ihren Ehemann. Mir gefällt aber auch die romantische Idee, dass sich Vater und Sohn im Schreiben begegnen, dass sich ihre Stimmen im Manuskript, in der Literatur vermischen.
Wie geht es Ihrem Vater?
Wir haben gerade seinen 96. Geburtstag gefeiert. Und ich erinnere mich immer noch gerne daran: Als ich 1999 Zug des Lebens beim Jüdischen Filmfestival Berlin zeigte, war mein Vater dabei. Sofort entstand eine Verbindung zwischen den jungen Deutschen und ihm, das war unglaublich. Übrigens war Deutschland das erste Land, das mein Vater nach dem Krieg besucht hatte. Er wollte sich selbst davon überzeugen, dass Deutsche und Nazis nicht dasselbe sind. Und er verliebte sich in Deutschland und hatte viele deutsche Freunde. Die erste Sprache, die mein Bruder und ich mit einem Kinderfräulein lernten, war übrigens Deutsch. Und die Lektion, die ich aus der Geschichte meines Vaters lerne und die ich auf heute übertrage, heißt: Auch Muslime und islamistische Terroristen sind nicht dasselbe.
In »Die Geschichte der Liebe« geht es auch darum, wie die Erinnerung an die Schoa an die jüngere Generation weitergegeben wird. Wie funktioniert das in Ihrer Familie?
Mein Bruder und ich haben wunderbare Eltern, die uns viele Erinnerungen, Bücher, Geschichten, Zeugnisse, viel Kultur vermittelt haben. Jüdisch zu sein, ist für mich eine Art von DNA: Wenn wir Pessach feiern, haben wir das Gefühl, wirklich aus Ägypten auszuziehen, auch wenn wir es nie selbst erlebt haben. Wir haben diese Verbindung in die Vergangenheit. Und in der Gegenwart haben wir auch die Pflicht, universal zu denken, nicht nur an uns selbst – und das, was wir von unseren Eltern bekommen haben, an unsere Kinder weiterzugeben. Jüdisch und menschlich zu sein ist eine Pflicht, aber auch ein Vergnügen. Wir können uns fühlen wie Moses und das Rote Meer teilen. Jeder kann frei sein und eine neue Welt bauen. Und wenn alles schiefzugehen scheint, dann ist immer noch ein Wunder möglich.
Mit dem Regisseur sprach Ayala Goldmann.