Der große Tag im Leben des ungarisch-jüdischen Autors Imre Kertész war der 10. Oktober 2002 – an diesem Tag wurde bekanntgegeben, dass er den Literaturnobelpreis gewonnen hat. Erlebt hat der Preisträger diese große Ehrung im Wissenschaftskolleg in Berlin-Grunewald, dessen Fellow er damals war.
Anwesend war an diesem Tag kurz nach 13 Uhr außer seiner Frau Magda auch sein langjähriger Freund und Berater Ingo Fessmann, der jetzt seine Erinnerungen an diese Freundschaft aufgeschrieben hat. In 37 kurzen essayartigen Episoden und Impressionen zeichnet der Autor seine persönliche Sicht auf Leben und Werk von Imre Kertész.
Nobelpreisträger Es ist eine Sicht, die vor allem etwas über die Beziehung dieser beiden Männer ausdrückt, viele Facetten des Nobelpreisträgers zeigt und vor allem von dessen besonderer Beziehung zu Deutschland und seiner Kultur, zu Berlin, aber auch von der komplizierten Beziehung zu Ungarn durchaus unterhaltsam erzählt.
Das wenige, das Kertész über seine jüdische Familie preisgab, erfahren wir von Fessmann gleichsam nebenbei. Aber er betont immer das Sensationelle an der Preisverleihung: Kertész war der erste und bisher einzige Literaturnobelpreisträger Ungarns.
Schutz Ingo Fessmann war es, der Imre Kertész der Schwedischen Akademie für den Nobelpreis vorgeschlagen und weitere Unterstützer eingeworben hat, wie den seinerzeitigen Leiter des Centrum Judaicum, Hermann Simon, dem das Buch gewidmet ist.
Frau Fessmann hatte – damals noch als Mitarbeiterin bei Rowohlt – immer so etwas wie eine Marketing-Aufgabe übernommen, im Laufe der Zeit die gesamte Pressearbeit für Kertész. Sie und ihr Mann waren erfolgreich, sie waren praktisch immer dabei, wenn es wichtig war. So etwa in Budapest, wo Kertész die Fessmanns wie zu seinem persönlichen Schutz dabeihaben wollte, weil er sich vor antisemitischen Angriffen fürchtete.
Kertész verehrte Kafka, Thomas Mann, Wagner und Schönberg.
Es entstand eine Nähe, die kurz nach den Stockholmer Zeremonien zerbrach. Kertész fand die Öffentlichkeitsarbeit der Fessmanns wohl zu teuer, den von Fessmann eingefädelten Deal mit der Berliner Akademie der Künste über den Erwerb seines Vorlasses, also des Nachlasses zu Lebzeiten, zu billig.
Freundschaft Ingo Fessmann schreibt darüber, auch über das Honorar seiner Ehefrau für die Pressearbeit (analog zu BAT II a), muss dann aber mit dem Jahr 2003 seinen persönlichen Bericht abbrechen. Es gab praktisch keinen Kontakt mehr. Die Freundschaft war zerbrochen.
Das schmale Buch ist dennoch ein großer Gewinn für das Verstehen des Nobelpreisträgers. Den Schlüssel zu seiner Beziehung zu Deutschland, dem Land, aus dem seine Peiniger in Auschwitz und Buchenwald stammten, bildet die Dankesrede auf der offiziellen Feier zur Nobelpreisverleihung, die sogenannte Bankettrede.
Das schmale Buch ist ein großer Gewinn für das Verstehen des Nobelpreisträgers.
Muttersprache Die hielt Kertész nicht in seiner ungarischen Muttersprache, in der er immer schrieb, sondern auf Deutsch! Einem erstaunten dänischen Journalisten erklärte er am Morgen nach dem »Bankett« in der Erinnerung von Fessmann: »In seinem Heimatland habe es sogar antisemitische Attacken gegen ihn bzw. gegen die Nobelpreisentscheidung gegeben, was im eklatanten Gegensatz zu der Zuneigung und Verehrung, ja sogar Liebe stehe, die ihm die Menschen in Deutschland entgegenbrächten. Das Verhältnis der Deutschen zu ihm, dem ausländischen Autor, und umgekehrt, sein Verhältnis zum neuen, heutigen Deutschland sei von so etwas wie gegenseitiger Liebe gekennzeichnet.«
Kertész verehrte besonders die drei deutschsprachigen Autoren Franz Kafka, Thomas Mann und Thomas Bernhard, er war ein Kenner klassischer Musik und liebte besonders Béla Bartók, Richard Wagner – diese Vorliebe teilte er mit seinem engen Freund Daniel Barenboim – und Arnold Schönberg sowie György Ligeti, mit dem er sein »Leiden an Ungarn« teilte. Das Verständnis, das Kertész für Musik aufbrachte, seine Liebe zu Meisterwerken wie auch zu der gar nicht leicht zugänglichen Neuen Musik der Wiener Moderne sind bisher in seinen Biografien wenig erwähnt worden.
Über die deutsche Übersetzung öffnete sich die Tür zu den europäischen Sprachen.
Übersetzung Sein literarisches Hauptwerk, der Roman eines Schicksallosen (zuerst auf Deutsch übrigens unter anderem Titel in der DDR erschienen) schlug in Deutschland schon lange vor dem Nobelpreis als literarische Sensation ein. Über die deutsche Übersetzung – das ungarische Original konnte ja kaum einer außerhalb Ungarns verstehen – öffnete sich die Tür zu den europäischen Sprachen, und auf Deutsch konnten es auch die schwedischen Juroren lesen.
Fessmann zitiert in diesem Zusammenhang Sigrid Löffler: »Ohne den Weg über die deutsche Literatur hätte man in Stockholm Imre Kertész gewiss nicht wahrgenommen.« Sein über eine Banalität verlorener Freund erwähnt die erstaunlich verhaltene Aufnahme der Werke von Kertész in den USA und denkt über die vermeintlichen Gründe für die späte Rückkehr seines Freundes nach Budapest nach, nachdem er seine Berliner Wohnung aufgegeben hatte.
Essay Den letzten Teil seines schmalen Büchleins widmet der Autor wundervollen kleinen Essays, zum Beispiel über die Wortschöpfung des »Schicksallosen« und auch über die »Glückskatastrophe«, ein Wort, das Kertész erfand, als er vom Nobelpreis erfuhr und das seine Gefühle in dem Moment wohl am besten ausdrückte.
Es bleibt der bittere Beigeschmack, dass die so fruchtbare Freundschaft zwischen Kertész und Fessmann letztlich an Gelddingen zerbrach, und so ganz kann sich der Autor dieser »persönlichen Sicht« nicht von dieser unglücklichen Katastrophe reinwaschen.
Ingo Fessmann: »Imre Kertész und die Liebe der Deutschen. Eine persönliche Sicht auf Leben und Werk«. Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2019, 204 S., 19,90 €