Frau Scheinfeld, Sie haben die Ferienhäuser der Catskills fotografiert und zeigen sehr offen den Verfall der berühmten Hotels. Warum?
Als Fotografin interessiere ich mich für Geschichte und den Zeitverlauf – das Medium fordert das buchstäblich. Die Catskills sind Teil der amerikanisch-jüdischen Erfahrung. Was einmal mit einer Handvoll Ferienhäuser begann, hatte sich zu 600 Hotels entwickelt. Mein Projekt war mir persönlich wichtig. Wenn man in dieser Region aufwächst, dann gibt es immer ein Familienmitglied, einen Freund oder ehemaligen Bewohner, der schnell eine Geschichte hervorzaubert, wie lebhaft es im sogenannten Borscht Belt gewesen ist. Diese Erinnerungen waren Teil jeder Autofahrt oder jedes Tischgesprächs, als ich klein war. Ich erinnere mich noch, dass ich mit meinen Großeltern am Wochenende die Hotels besuchte. Wir fuhren ins »Kutsher’s« oder »The Concord«, um meinen Großvater beim Kartenspielen zu sehen. In den Räumen roch es nach starken, kräftigen Zigarren. Und danach ging es zum Schwimmen in einen der riesigen Hotel-Pools oder zu einem Bingospiel. Als Teenager hatte ich einen meiner ersten Ferienjobs als Rettungsschwimmerin im »Concord«, das im Herbst 1998 schloss. Als ich beschloss, den Werdegang dieser Region zu dokumentieren, war es mir wichtig, mich voll und ganz in diese Landschaft zu vertiefen und mich ihr anders zu nähern, als ich sie ursprünglich wahrgenommen habe.
Wie haben Sie das geschafft?
Als ich mit der Serie angefangen habe, habe ich mich auf die Geschichte der Region und darauf, was einmal war, konzentriert. Was ich auf Bildern gesehen, von Historikern gehört oder von Besuchern gelesen habe, machte mir klar, dass diese Ära nicht nur vermisst, sondern auch wertgeschätzt wurde. Ich habe schnell begriffen, dass es keine aktuelle Darstellung des Borscht Belt gab. Mit diesem Gedanken fuhr ich nach Hause, um zu fotografieren. In den zwei Jahren, in denen ich an meinem Projekt gearbeitet habe, habe ich durch Gespräche oder Feedback von meinen Mentoren, von ehemaligen Feriengästen oder Anwohnern immer wieder von neuen Ruinen oder Orten erfahren. Es gibt noch so viel zu fotografieren.
Was ist das Schöne am Verfall?
Ich glaube, dass es eine bestimmte Schönheit im Verfallsprozess gibt. Und die ist mit dem Verlauf des Wachstums selbst verbunden. Was die ehemaligen Hotels betrifft, so finde ich es sehr spannend, wenn ich sehe, wie sich die Natur das erobert, was der Mensch zurückgelassen hat – besonders, wenn ich nicht genau sagen kann, wo von Menschen gemachte Elemente enden und wo Natur anfängt.
Sind Ruinen in?
Ich vermute, dass Ruinen in der Tat ein verbreitetes Thema in der Fotografie sind, und das seit ihren Anfängen im späten 19. Jahrhundert. Es setzt sich fort, besonders heutzutage, da viele Städte und kleine Orte abgenutzt, verlassen und buchstäblich ruiniert sind. Ich bin zwar Fotografin, aber die Art und Weise, wie ich mich diesen Ruinen genähert habe, war ähnlich einer Archäologin, die nach Spuren und Überresten aus einer anderen Zeit gesucht hat. Meine Recherchen in der Vergangenheit waren wie ein Plan, der mich jeden Standort umschlungen vom Wiederaufleben der Natur entdecken ließ. Mit zusätzlichen Resten von Hausbesetzern, Paintballern und Schlägern, die jede Begegnung, die ich mit fast jeder Ruine hatte, angeheizt haben.
Was war denn Ihre größte Herausforderung beim Fotografieren?
Mal abgesehen von den Gefahren, die die Entdeckung der Gebäude nach sich gezogen hat, wie einstürzende Böden, schadhafte Strukturen, Schimmel und giftige Materialien, lag die Herausforderung vor allem darin, einen festen Untergrund zu finden, um ein Foto aufzunehmen und dann schnell voranzukommen. Darüber hinaus stehen viele Orte unter polizeilicher Beobachtung. Beinahe wöchentlich werden Leute festgenommen, die Überreste stehlen oder Grundstücke verwüsten. Anfangs war es schwierig, von der Polizei und den Grundstückbesitzern die Erlaubnis zum Fotografieren zu erhalten. Einmal wäre ich beinahe verhaftet worden. Aber als jeder meine Absicht verstanden hatte, durfte ich weitermachen.
Sie wurden in New York geboren und sind in den Catskills aufgewachsen. Welche Erinnerung haben Sie an diese Region?
Fast sämtliche Kindheitserinnerungen sind mit den Catskills verbunden. Meine Familie zog von Brooklyn dorthin, als ich sieben war. Ich hatte viele Freiheiten, konnte herumrennen und die Landschaft entdecken. Ich glaube, dass sich das in mein Erwachsenenleben übertragen hat und dass das Entdecken ein enormes Thema und folglich eine wichtige Zutat meiner Arbeit ist.
Wenn Sie einen Wunsch für die Catskills hätten, welcher wäre das?
Die Catskills und der Borscht Belt waren ein Zufluchtsort für komplette kulturelle und soziale Bewegungen. Deren Einflüsse haben sich im amerikanischen Mainstream ausgebreitet, in der Kultur, Unterhaltung und den Medien. Mich verbindet viel mit dieser Gegend, weil ich dort aufgewachsen bin. Als Fotografin fühlte ich mich verpflichtet, diese Geschichte zu dokumentieren und festzuhalten, was von ihr übrig geblieben ist. Ich hoffe, dass diese Region für ihre wichtigen Beiträge in Erinnerung behalten wird. Aber auch ihres Schicksals wegen, das so viele kleine Städte in Amerika (und in der Welt), die vergessen und ihrem Verfall überlassen werden, genauso trifft. Mit dieser Hoffnung sehe ich in die Zukunft und bin auch daran interessiert, dass das Gebiet wiederbelebt wird. Denn es steckt eine Menge Potenzial darin, auch wenn das viele noch nicht erkennen.
Mit der Fotografin sprach Katrin Richter.
Marisa Scheinfeld wurde 1980 in Brooklyn geboren und wuchs in den Catskills auf. Sie fotografiert, seit sie 15 Jahre alt ist, und studierte an der State University of New York. Bis 2009 arbeitete sie am Museum of Photographic Arts (MoPA) in San Diego. Anschließend wurde Scheinfeld in das Trainee-Programm der School of Art an der San Diego State University aufgenommen.
Am 4. Oktober erscheint ihr Buch »The Borscht Belt«
www.borschtbeltrevisited.com
www.marisascheinfeld.com
Zur Bildergalerie von Marisa Scheinfeld:
prelive.juedische-allgemeine.de/gallery/view/id/107