Wolf Biermann hat einen Zettel mitgebracht. Er liegt auf seinem Notenständer und auf diesem ausgedruckten Stück Papier sind wiederum Zettel zu sehen. Zettel von Kindern, die sie im Deutschen Historischen Museum bemalt haben. Da war Biermann nämlich kürzlich, um ihn mal kennenzulernen, »diesen deutsch-deutschen Liedermacher«, wie er am Montagabend erzählt. Und eben einer dieser mit Buntstiften bemalten Zettel ist ihm besonders in Erinnerung geblieben. Er zeigt eine palästinensische Fahne und darauf steht: »Free Palestine, Wolf«. Biermann hält sich die Hand vor dem Mund.
Dieses Kind, sagt Biermann, würde er gern persönlich kennenlernen. Er würde ihm sagen: »Du hast das wunderbar gemacht. Ich bin auch dafür, dass Palästina befreit wird. Aber ich kann das nicht machen.« Das schafften nicht einmal die Israelis »mit ihren Waffen, mit ihren Panzern, mit ihren Bomben, mit ihrer Atombombe. Die Israelis haben zum Glück diese Waffen, um sich gegen diesen brutalen Mordangriff auf Israel zu verteidigen. Und ich bin froh darüber.«
Die Hamas besiegen, das könnten nur die Palästinenser selbst schaffen. Das würde Biermann dem Kind so gut es ginge erklären, »dass die Palstinenser endlich die Chance haben müssen, sich gegen ihre schlimmsten Unterdrücker zu wehren.« Wenn die arabischen Staaten ihnen dabei sogar noch helfen würden, dann gebe es eine Chance, dass die Hamas besiegt werde. Sein Lied Ermutigung widmete er nicht nur seinen Freunden in Israel, die sich verteidigten, sondern auch den Palästinensern, damit sie endlich lernten, sich selbst zu befreien. Die Ermutigung, erschien zum ersten Mal 1968.
Zeichen gegen das Schweigen der Kunstszene
Am Montag im Berliner Ensemble war sie Teil eines Abends, der von Igor Levit initiiert wurde. Unter dem Motto »Gegen das Schweigen. Gegen Antisemitismus« wollten Künstlerinnen und Künstler, Autorinnen, Autoren, Zeitzeugen und ein Zeichen gegen das Schweigen der Kunstszene nach den Angriffen der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober auf Israel setzen.
Ein Zeichen, das nötig war, war es doch viel zu lange viel zu still gewesen. Levit ist mit diesem Abend gelungen, was seit dem 7. Oktober in der deutschen Kunstszene gefehlt hat. Ein Treffen verschiedenster Genres mit einem Anliegen: Nicht zu schweigen. Und so kamen sie zusammen: von Katharina Thalbach über Tim Mälzer bis hin zu Sven Regener. Von Malakoff Kowalski über Joana Mallwitz bis hin zu den Toten Hosen. Alexander Scheer, Paul Zichner und das BE-Tanzorchester oder Michel Friedman und Maria Schrader.
Grußbotschaft von Zeruya Shalev
Die Schauspielerin, die vier Gedichte von Jehuda Amichai las und später am Abend aus einem Text von Theodor W. Adorno las, überbrachte zudem eine Grußbotschaft der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev. Für Shalev, so las Schrader vor, sei diese Veranstaltung »ein Lichtstrahl in der Dunkelheit, die am 7. Oktober über uns hineingebrochen ist.« Amichai empfehle Zweifel und Liebe. Shalev schrieb, sie würde gern Solidarität und Mäßigung hinzufügen. Sie rief dazu auf, zusammenzustehen gegen Extremismus und Fundamentalismus, der Tod und Zerstörung bringe.
700 Besucherinnen und Besucher hörten zu, applaudierten, standen für die Zeitzeugin Margot Friedländer sogar auf, um der 102-jährigen ihren Respekt zu bezeugen. Respekt, das war auch ein Anliegen des Autors und Publizisten Michel Friedman, der mit seiner Rede den Nerv des Publikums traf. Der die Bedenken von Eltern verdeutlichte, die mit ihren Kindern darüber nachdenken würden, eine Kette mit einem Davidstern abzulegen. »Soll das Kind den Davidstern, den es bisher so voller Leichtigkeit trug unter einem T-Shirt, soll man dem Kind sagen zieh es aus?« Wie soll man das einem Kind vermitteln, ohne dabei zu sagen, dass es ein Stück seiner Identität ablegen solle. »Ich möchte nicht, dass Menschen sich in meinem Land verstecken müssen. Ob jüdische Menschen oder andere Menschen. Niemand soll sich in meinem Land verstecken sollen, weil er ist wie er ist oder sie ist.« Zuvor hatte der Schauspieler Ulrich Noethen aus Friedmans Buch Fremd gelesen. Katharina Thalbach wiederum trug einzigartig Die Fremden von Karl Valentin vor.
Die Zusammenstellung von Ernstem, Nachdenklichen, von neuen Songs, von Klassikern, von Klassik und Jazz, war es, was den Abend, der vier Stunden umfasste, zu keiner Minute unehrlich oder langweilig machte. Spätestens nachdem sich Tim Mälzer als der Fernsehkoch vorstellte, der sich »auf zauberhafte Weise fehl am Platz« fühlte, wie er beschrieb, aber im Berliner Ensemble sei, weil er für die Menschlichkeit und gegen den Hass stehe, war klar, dass man keine komplizierten Ansätze braucht, um Dinge zu bewegen. Manchmal reicht eben schon das kleine Wort »Liebe« . Mälzer las Was es ist von Erich Fried. Beim Vorlesewettbewerb, den Mälzer in der Grundschule mal gewonnen hatte, erzählte er kurz zuvor, habe er eine reflektierende ADAC-Mütze gewonnen: Für seine Interpretation von Frieds Gedicht würde Mälzer garantiert noch eine dazu bekommen.
Weitere Konzerte angekündigt
Etwas mehr sollen die Berlinerinnen und Berliner auch von dem Solidaritätsabend bekommen, denn Levit versprach, dass es 2024 weitere künstlerisch-musikalische Treffen geben werde. Bitter nötig wird auch das sein, denn dieser erste Abend war innerhalb von vier Minuten ausverkauft. Der Erlös geht an die Beratungsstelle OFEK und die Initiative KiGA. Für Levit war es ein kleiner Schritt nach vorne. Für die Kunstszene ein riesig großer.