Lyrik

Ein Rettungsseil aus Worten

»Noch feiert Tod das Leben« – der Titel eines Gedichtzyklus von Nelly Sachs (1891–1970) steht für ihr Werk. Das Lebensthema der Dichterin war der Massenmord an den europäischen Juden.

Sie starb vor 50 Jahren an Krebs, am 12. Mai 1970 – dem Tag, an dem Paul Celan beerdigt wurde. Dem Dichter der »Todesfuge« fühlte sie sich seelenverwandt. Beide waren jüdisch und nach dem Holocaust von starken Ängsten getrieben. Beide haben Gedichte geschaffen, um ihrem Dasein jenseits der Gräber einen Sinn abzugewinnen.

VERGANGENHEIT »Dichtung war für beide ein über den Abgrund der Vergangenheit gespanntes Rettungsseil aus nichts als Worten«, so beschrieb es einmal der Lyriker und Literaturkritiker Peter Hamm. Nelly Sachs hat sich mit ihrem Gedicht über die »Wohnungen des Todes«, die deutschen Vernichtungslager in Polen, in ihrem gleichnamigen Lyrikband ins Gedächtnis geschrieben: »O ihr Schornsteine,/O ihr Finger,/Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!«

Das Buch wurde 1947 in Ost-Berlin publiziert, wie auch das folgende unter dem Titel »Sternverdunkelung« 1949. Im Westen wurden die Gedichte von Nelly Sachs erst zehn Jahre später bekannt.

»Hart, aber durchsichtig«, nannte sie der junge Hans Magnus Enzensberger, der sie Anfang der 60er-Jahre als Lektor in den Suhrkamp Verlag einführte und später ihren Nachlass verwaltete.

KABBALA Er erkannte auch, dass die Gedichte in der jüdischen Mystik, der Kabbala, wurzelten. Nelly Sachs hatte aber auch asiatische Weisheitslehrer gelesen, christliche Mystiker wie Meister Eckhart und Jakob Böhme sowie die Romantiker, allen voran Novalis.

Ihre Gedichte wurzeln in der Kabbala.

War Nelly Sachs eine Mystikerin? »Ganz gewiss in ihrer Suche nach direkter Gotteserfahrung und hinsichtlich der konkreten Bezüge auf die christliche wie jüdische mystische Tradition«, sagt Suhrkamp-Lektor Wolfgang Kaußen.

Dabei wollte die Tochter einer assimilierten Unternehmer-Familie zuerst Tänzerin werden. Geboren am 10. Dezember 1891 als Leonie Sachs in Berlin-Schöneberg, wuchs sie in einer Idylle auf, mit einem zahmen Reh und einer Ziege.

LEIDENSCHAFT Auf der Höheren Töchterschule packte sie die Leidenschaft für Literatur: Sie begann mit 15 Jahren, mit der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf zu korrespondieren. Das sollte ihr später das Leben retten. Nach der Mittleren Reife schrieb sie mit 17 erste neoromantische Gedichte.

Eine frühe Liebesbeziehung wurde vom Vater untersagt. Der geliebte Mann, dem Widerstand gegen die Nazis verbunden, wurde später gefoltert und starb in einem KZ. Sachs hat ihn als »Bräutigam« in ihren Gedichten verewigt. Nach dem Tod des Vaters 1930 zog sie mit ihrer Mutter ins Hansa-Viertel. Dort lebten sie zurückgezogen, während draußen die SA lärmte. In dieser Zeit entdeckte Nelly Sachs die Bibel und Martin Buber. Auf  Israel setzte sie ihre Hoffnung.

Im Mai 1940 kam der Gestellungsbefehl von der Gestapo. Am selben Tag erhielten Mutter und Tochter ihre ersehnten Visa für Schweden.
Nellys Freundin Gudrun Harlan hatte sie über die Fürsprache Selma Lagerlöfs beim Königshaus erwirkt. Mit einem der letzten Flugzeuge flohen sie.

PAUL CELAN Als sie in Stockholm ankamen, war Lagerlöf gerade gestorben. Nelly Sachs arbeitete als Wäscherin, lernte Schwedisch und begann, moderne schwedische Lyrik zu übersetzen. Die schwedische Staatsbürgerschaft erhielt sie erst 1953, drei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, die sie bis zuletzt pflegte. Jetzt begann sie, mit Paul Celan zu korrespondieren, 1960 besuchte sie ihn in Paris.

Im selben Jahr reiste sie nach Deutschland, um den Meersburger Droste-Preis entgegenzunehmen. Sie hatte Angst vor dem Land der Massenmörder, deren Kinder jetzt ihr Mysterienspiel Eli als Hörspiel im Rundfunk sendeten und ihre Lyrikbände Und niemand weiß weiter (1957) sowie Flucht und Verwandlung (1959) verlegten.

An ihrem 75. Geburtstag erhielt Nelly Sachs in Stockholm gemeinsam mit ihrem Kollegen Samuel Joseph Agnon den Literaturnobelpreis.

Die »Gruppe 47«, die Vereinigung renommierter Nachkriegsautoren, interessierte sich offenbar nur wenig für die Lyrikerin im Exil: »Das Verhältnis der Gruppe 47 zu Nelly Sachs war eines der Indifferenz«, sagt Lektor Kaußen.

SCHWEDEN Als Nelly Sachs nach Schweden zurückkam, brach sie zusammen. Drei Jahre blieb sie in einer psychiatrischen Klinik. Während der Zeit stiftete die Stadt Dortmund den Nelly-Sachs-Preis und verlieh ihn der Dichterin, seit 1961 wird er alle zwei Jahre vergeben. Kaum war sie einigermaßen stabil, reiste sie 1965 wieder nach Deutschland: um den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegenzunehmen.

Im Jahr darauf erhielt sie, an ihrem 75. Geburtstag, in Stockholm den Literaturnobelpreis gemeinsam mit ihrem Kollegen Samuel Joseph Agnon. Sie sei »Trägerin einer Botschaft des Trostes, die all jenen gilt, die am Schicksal der Menschheit verzweifeln«, hieß es in der Laudatio. Eigens für die Preisverleihung verfasste sie ein Gedicht: »An Stelle von Heimat/halte ich die Verwandlung der Welt.«

Nach Deutschland ist sie nie mehr zurückgekehrt. Heute erinnern Straßen und Plätze hierzulande an sie. Begraben aber ist sie auf dem jüdischen Friedhof von Stockholm.

Veranstaltungen

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 21. November bis zum 28. November

 21.11.2024

Liedermacher

Wolf Biermann: Ein gutes Lied ist zeitlos gut

Er irre sich zuweilen, gehöre habe nicht zu den »irrsten Irrern«, sagt der Liedermacher

 21.11.2024

Nachruf

Meister des Figurativen

Mit Frank Auerbach hat die Welt einen der bedeutendsten Künstler der Nachkriegsmoderne verloren

von Sebastian C. Strenger  21.11.2024

Berlin

Ausstellung zu Nan Goldin: Gaza-Haltung sorgt für Streit

Eine Ausstellung würdigt das Lebenswerk der Künstlerin. Vor der Eröffnung entbrennt eine Debatte

von Sabrina Szameitat  21.11.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 21.11.2024

Fachtagung

»Kulturelle Intifada«

Seit dem 7. Oktober ist es für jüdische Künstler sehr schwierig geworden. Damit beschäftigte sich jetzt eine Tagung

von Leticia Witte  20.11.2024

Meinung

Maria und Jesus waren keine Palästinenser. Sie waren Juden

Gegen den Netflix-Spielfilm »Mary« läuft eine neue Boykottkampagne

von Jacques Abramowicz  20.11.2024

Berlin

Von Herzl bis heute

Drei Tage lang erkundet eine Tagung, wie der Zionismus entstand und was er für die jüdische Gemeinschaft weltweit bedeutet

 20.11.2024

Antisemitismus

»Verschobener Diskurs«

Nina Keller-Kemmerer über den Umgang der Justiz mit Judenhass und die Bundestagsresolution

von Ayala Goldmann  20.11.2024