Rezension

Ein radikales Drama, das Fragezeichen setzt

Jonathan Glazer (2.v.l.) nimmt am Samstagabend in Cannes die Ehrung entgegen. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Es war der Film, der in Cannes mit am meisten für Gesprächsstoff sorgte: die radikale Dramatisierung des Holocaust durch Jonathan Glazer, der in »The Zone of Interest« das gleichnamige Buch des am 19. Mai verstorbenen Schriftstellers Martin Amis für ein raffiniertes Spiel über die Bande nutzt und in seiner schockierenden (Nach-)Wirkung durchaus an »Shoah« von Claude Lanzmann heranreicht.

Die große Wucht von Glazers Film hat viel mit der konzeptionellen Strenge der Inszenierung zu tun, die durchgängig aus der Halbdistanz auf die Familie des KZ-Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, und seiner Frau Hedwig blickt, die in einer Villa außerhalb des Vernichtungslagers mit ihren fünf Kindern und mehreren Bediensteten leben.

Wenn man die lange, von einem abgründigen Wummern bestimmte Titelsequenz einmal weglässt, die den Film in der Jetztzeit verankert und das Grauen des Folgenden intoniert, hebt der Film mit einer bestechenden Idylle an. Inmitten einer friedlich-grünen Natur hat sich eine Familie an einem Flussufer niedergelassen. Die Blätter rauschen im Wind, Kinder vergnügen sich im Wasser, abends kehren die Ausflügler in zwei schwarzen Limousinen in ihr herrschaftliches Haus zurück.

Erst am nächsten Morgen realisiert man, dass das Anwesen unmittelbar an der Mauer des KZs liegt, aus dem immer wieder Schreie, Schüsse und ein düsteres Grollen herüberdringen. Doch bis auf die Silhouette eines Wachturms und dem Rauch und Feuer spuckenden Schlot des Krematoriums bleiben die Todesmühlen von Auschwitz-Birkenau strikt außerhalb des Bildes.

»Ein Paradies«, schwärmt Hedwig, als sie ihre Mutter durch den Garten führt, hinter dessen betongrauer Wand im selben Augenblick hunderte Menschen geschoren, entkleidet, vergast, ihrer Goldzähne beraubt und verbrannt werden.

Aus dieser Diskrepanz zwischen bieder-herrischer Bürgerlichkeit und dem Wissen um den industriell organisierten Massenmord erwächst eine atemlose Spannung, die keine Auflösung zulässt, sondern bis zum Schluss an den unerträglichen Widersprüchen festhält.

Während Hedwig zum Kaffeekränzchen lädt, empfängt der Kommandant zwei Manager von Topf & Söhne, die ihm die neuen Krematorien in Auschwitz II erläutern, welche im Dauerbetrieb beladen und betrieben werden können. Abends legt er sich dann zu seinen Töchtern ins Bett und liest ihnen mit weicher Stimme Märchen vor.

Mehrmals schaut die Kamera dem von Christian Friedel gespielten Höß schlicht dabei zu, wie er abends durch das Haus geht, eine Lampe nach der anderen löscht, die Türen schließt und sich dann schlafen legt. Es gibt keine Psychologie, keine Angst, keine Albträume; nur zwei mit der Wärmekamera fotografierte Sequenzen, in denen ein namenloses Mädchen nachts Obst und Kartoffel für die Gefangenen am Wegrand versteckt.

Die konzentrierte Stille und der streng registrierende Gestus der Aufnahmen, die nichts erklären oder forcieren wollen, bedingen eine enorme Konzentration, die auch bei eher handlungsorientierten Passagen nicht schwindet, etwa wenn Höß bei einem Bootsausflug mit seinen Kindern in KZ-Abwässer mit menschlichen Überresten gerät oder er im Sommer 1943 nach Berlin versetzt wird, was zu einer handfesten Ehekrise führt, weil seine Frau (biestig-deutsch: Sandra Hüller) das Anwesen in Auschwitz auf keinen Fall verlassen will.

Auch für die Anbindung des Films an die Gegenwart findet Glazer einen visuell und dramaturgisch bezwingenden Dreh, wenn er Höß in einem Moment höchster Macht für einen Augenblick schwächeln lässt und das zu einem Zeitsprung in die heutige Ausstellung auf dem Gelände des KZ in Auschwitz nutzt, das vom Museumspersonal gerade für den nächsten Besucheransturm hergerichtet wird.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025