Frankfurt am Main, Dezember 2011. Von der EZB, der Europäischen Zentralbank, wo täglich die Euro-Krise neu bewertet wird, bis in die Rhönstraße, in der Deutschlands eigenwilligstes und zur Zeit erfolgreichstes Schriftstellerpaar wohnt, sind es über die Hanauer Landstraße keine drei Kilometer. Die mit Büchern zugestellte Mietwohnung ist ein Antipode zum imposanten EZB-Gebäude. Auf der falschen Seite des Geldes hat Oleg Jurjew einmal eine Kolumne betitelt. Dabei hat er Volkswirtschaft studiert, Fachrichtung Wirtschaftsmathematik und Systemtheorie.
erfolgreich Oleg Jurjew, 53, und Olga Martynova, 49, lebten bis 1991 in Sankt Petersburg, nach Deutschland sind sie damals zu zwei Lesungen gereist und in Frankfurt hängen geblieben. Inzwischen sind die beiden hier auch angekommen. Martynova wurde für ihre schriftstellerische Arbeit in Deutschland mit zwei Preisen ausgezeichnet, sie erhielt zwei Stipendien und veröffentlichte in Russland das »Gedicht des Jahres«.
Jurjews Hörspiel Petersburger Zwillinge über die jüdischen Dichter Leonid Aronson und Joseph Brodsky hatte im Sommer Premiere. Ein paar Monate davor erschien bei Kein & Aber in Zürich das Hörbuch zu seinem Roman Die russische Fracht. Harry Rowohlt hatte zuvor persönlich angerufen. »Das will ich aufnehmen!«, sagte er und wollte keine Zeit verlieren.
»Dein Buch lese ich während der Aufnahme zu Ende.« In diesem Jahr gehen Jurjew und Rowohlt auf Tournee. Harry wird aus dem Roman lesen, Oleg auf seiner 85 Jahre alten russischen Gitarre spielen und dazu singen: traurig-schaurig-schöne russische Romanzen aus dem 19. Jahrhundert und abseitige Seefahrer- und Gaunerlieder aus Sankt Petersburg.
Glückliche und gleichermaßen erfolgreiche Schriftstellerpaare sind selten. Martynova und Jurjew sind ein angenehm uneitles Duo, zurückhaltende Naturelle, zu Beginn freundlich reserviert – wer schreibt, bleibt wachsam, wenn er selbst betrachtet und beschrieben werden soll. Jurjew ist der Typus des intellektuellen Schriftstellers, Traditionalist und Neuschöpfer zugleich. Mit seinem Roman Die russische Fracht (2009) verlangt er seinen Lesern einiges ab.
zweisprachig Olga Martynova überfliegt einen vom Besucher mitgebrachten Zeitungsartikel über Russlands junge Autoren. Sie hat 2009 die russische Gegenwartsliteratur als Revival des Sozialistischen Realismus aus Sowjetzeiten kritisiert.
Weil sie und ihr Mann in zwei Sprachen schreiben und in Deutschland wie in Russland publizieren, vergleichen und analysieren sie zwangsläufig und sind sich einig im Urteil: Russlands Lyrik-Tradition sei ungebrochen, die dort verlegte zeitgenössische Prosa allerdings größtenteils Schund. Schuld sei die Verlagsstruktur. Jurjew: »Das ist etwa so, wie wenn Heyne und Lübbe sich hier den Buchmarkt teilen würden.«
Dominant in Prosa und Lyrik des Autorenpaars ist das Miteinander zweier Mentalitäten, der russischen und der deutschen; die Sozialisation in der Sowjetunion und der heutige Blick von außen auf Russland. »Russland ist meine Heimat, Deutschland mein Zuhause«, sagt Olga Martynova. »Mir ist zurzeit mein Zuhause näher«, fügt Oleg Jurjew hinzu.
So sehr es einst Zufall war, dass er und seine Frau in Frankfurt ein neues Leben begonnen haben, so sehr liebt er heute die Stadt, das Land, das Publikum im deutschsprachigen Raum. »Die Menschen sind sehr aufgeschlossen und neugierig, sie wollen nicht nur Popstars sehen, dafür sind wir dankbar.«
jüdisch Oleg Jurjew und Olga Martynova haben einen Sohn, Daniel, der inzwischen erwachsen und von zu Hause ausgezogen ist. Daniel wurde jüdisch erzogen. In früheren Romanen Jurjews wie Halbinsel Judatin (1985) und Der neue Golem (2003) scheinen Anleihen bei der jüdischen Mythologie deutlich durch, heute klingt das Jüdische in den Texten der beiden eher beiläufig an.
In Russland, sagt Jurjew, war Jüdischsein ständig ein Thema. »Hier ist es, Gott sei Dank keines.« In der Sowjetunion war die jüdische Herkunft im Pass verzeichnet, wurden Juden an bestimmten Universitätsfakultäten nicht zugelassen. Hier ist Jurjew seit 20 Jahren Mitglied der Gemeinde und schätzt ihr soziales Engagement sehr.
Als er kaum drei Jahre in Frankfurt lebte, wurde im Rahmen der Jüdischen Kulturtage sein Stück Kleiner Pogrom im Bahnhofsbuffet aufgeführt, Jurjew aber nicht zur Aufführung eingeladen. Den Lapsus hat er der Gemeinde damals schon nicht nachgetragen. »Die Kulturabteilung hatte wohl nicht gedacht, dass der Autor hier wohnt.«
Im Februar erscheint bei Jung und Jung in Salzburg der zweisprachige Gedichtband In zwei Spiegeln, eine Auswahl Jurjewscher Lyrik seit 1984. Olga Martynova wird nach ihrem Debüt 2010 (Nur Papageien überleben uns) 2013 bei Droschl in Graz ihren zweiten Roman veröffentlichen, geplanter Titel Mörikes Schlüsselbein, geschrieben auf Deutsch. In fließendem Deutsch. Aber fließt die metaphorische Tinte nicht eher in der Muttersprache? Oleg Jurjew lacht. »Nichts fließt – auch nicht, wenn man auf Russisch schreibt.« Schreiben ist Arbeit, ob Lyrik oder Prosa.