»Ich schau dir in die Augen, Kleines.« Wenn ein Fernsehbericht über Kinogeschichte bereits mit einem Zitat aus dem Klassiker Casablanca beginnt, das in den letzten Jahrzehnten schon so oft zitiert wurde, dass man es eigentlich gar nicht mehr hören kann, verheißt dies nichts Gutes für das, was noch kommt. In der WDR-Kultursendung Westart traf dies jüngst ganz besonders zu. Darin spielte das legendäre Essener Kino »Lichtburg« und seine Geschichte eine zentrale Rolle.
Nun könnte man erwarten, dass in einem solchen Format zumindest an einer Stelle eingehender auf Biografie, Wirken und Schicksal des Berliner Filmunternehmers Karl Wolffsohn hingewiesen wird, also auf denjenigen, der die Essener Lichtburg und das Kino in Deutschland allgemein prägte wie kein Zweiter.
verfolgung Dabei ist bereits am Eingang des Lichtspieltheaters in der Essener Innenstadt an prominenter Stelle für jedermann deutlich zu lesen: »Seit 1931 war der Berliner Verleger und Pionier der Filmpublizistik, Karl Wolffsohn, Pächter und Betreiber dieses Großkinos. Als Jude verfolgt, musste Karl Wolffsohn 1933/34 auf Druck der NSDAP seinen Lichtspielbetrieb an den halbstaatlichen Filmkonzern UFA verkaufen.«
»Ich überlasse den Räubern nicht das, was sie mir geraubt haben«, schwor sich Wolffsohn.
Nun besteht selbstverständlich keine Verpflichtung dazu, in jedem Fernsehbeitrag über die Essener Lichtburg an den zwangsenteigneten jüdischen Filmunternehmer Karl Wolffsohn zu erinnern. Jedoch: Westart präsentiert einen kurzen Überblick über die Geschichte der Lichtburg, von ihrer Eröffnung im Jahr 1928 bis heute.
Und in diesem Zusammenhang wäre es sehr wohl die Pflicht der Macher gewesen, zumindest in zwei oder drei Sätzen auf Karl Wolffsohns Verdienste um die Lichtburg und auf die »Arisierung« des Kinos einzugehen. Auf Rückfrage teilte die WDR-Redaktion dieser Zeitung mit, dass sie sich dazu entschieden hatte, Karl Wolffsohn im Rahmen eines so kurzen historischen Rückblicks nicht zu erwähnen. Hand aufs Herz: Dann hätte man den Exkurs zur Geschichte der Lichtburg besser ganz gestrichen.
enkel Für Wolffsohns Enkel Michael, Publizist und Historiker, steht jedenfalls fest: »Die Macher der Sendung, die angeblich so geschichtsbewusst sind, blenden das Schicksal des jüdischen Eigentümers komplett aus – ein Unding, erst recht in einer 30-minütigen Doku, in der genug Zeit zur Verfügung gestanden hätte.«
Nach Erfahrung von Michael Wolffsohn aber leider kein Einzelfall: »In Medienberichten über das Kino meines Großvaters kommen er, sein Wirken und der ungeheure Raub seines Eigentums bestenfalls nur ganz am Rande vor.«
Überhaupt wurden die Jahre 1933 bis 1945 in dem WDR-Beitrag mit nur einem Satz umrissen: »Die Nazis machen Propagandafilme, der Krieg alles kaputt.« Ein so kurzer wie zumindest missverständlicher Satz.
Auch wenn Karl Wolffsohn in der WDR-Kultursendung mit keinem Wort erwähnt wurde, so gibt es doch eine Reihe von Büchern, die an den Filmunternehmer und dessen Verdienste erinnern: Christoph Wilmers Karl Wolffsohn und die Lichtburg (2006), Ulrich Döges Wolffsohn-Biografie (2016) und natürlich Michael Wolffsohns Deutschjüdische Glückskinder. Eine Weltgeschichte meiner Familie (2017). Weitere Werke werden sicher folgen, denn Leben und Werk des einzigartigen Filmpioniers Karl Wolffsohn bieten Stoff für eine ganze Reihe von Büchern.
berlin Als Karl Wolffsohn im Jahr 1900, im Alter von 19 Jahren, von Posen nach Berlin zog, um dort als Setzer zu arbeiten und dann bei Ullstein das Druckerhandwerk zu erlernen, war der Film gerade einmal sechs Jahre alt. Das revolutionäre Medium hatte gleich mehrere Väter, unter anderem Thomas Edison in New York, die Brüder Lumière in Paris, Birt Acres in London und die Brüder Skladanowsky mit ihrem Bioskop in Berlin. Dass Karl Wolffsohn zum Filmpublizisten wurde, war eher Zufall: Ab 1908 besaß er zusammen mit zweien seiner Brüder in Berlin-Kreuzberg eine kleine Druckerei.
Und als die Wolffsohns 1910 die Gelegenheit erhielten, die heruntergewirtschaftete Filmzeitschrift »Lichtbildbühne« (LBB) zu erwerben, griffen sie sofort zu. Nach dem Tod der Brüder wurde Karl Wolffsohn Besitzer und Verleger der »LBB«. Er machte die Zeitschrift zu einer der weltweit führenden Publikationen, die sich mit den technischen, unternehmerischen und künstlerischen Aspekten des neuen Mediums beschäftigten.
Im Mai 1927 eröffnete Wolffsohn in Gegenwart von Ernst Lubitsch das weltweit erste dem Film gewidmete und jedermann zugängliche Archiv nebst Fachbibliothek. Das ständig wachsende Archiv umfasste Tausende Fotografien, Bücher, Dissertatio-nen, Manuskripte, internationale Pressepublikationen sowie ein katalogisiertes Pressearchiv und darüber hinaus sogar historisch wertvolle Filme. Das altehrwürdige Pariser Musée des Arts et Métiers hatte Wolffsohn in Anerkennung seiner Pionierleistung sogar einen dieser seltenen Filme geschenkt. Auch für Filmwissenschaftler war Wolffsohns Archiv eine unersetzliche Informationsquelle geworden.
wedding Bereits ab 1921 residierte der Lichtbildbühne-Verlag, an dem nun auch Ullstein beteiligt war, in der unteren Friedrichstraße, dort, wo fast alle wichtigen deutschen und internationalen Filmunternehmen vertreten waren. Nicht nur in der deutschen und europäischen Filmwelt wurde Wolffsohn zur Autorität in Sachen Film, auch in Hollywood las man seine Artikel, besprach man lobend die von ihm verlegten Bücher.
Noch bevor der Film laufen und schließlich sprechen und singen lernte, begann Wolffsohn, die Entwicklung der neuen Kunst so liebevoll wie kritisch zu begleiten. Er hat, wie es sein Enkel Michael Wolffsohn formuliert, »die Filmwirtschaft in ihrer Totalität sozusagen personifiziert«. Mehr noch: Karl Wolffsohn war stets der Überzeugung, dass sich Profit und hohe Qualität zu niedrigen Preisen nicht ausschließen müssen.
Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist die »Gartenstadt Atlantic« in Berlin-Wedding, ein von Rudolf Fränkel geplantes soziales Wohnprojekt im Stil der »Neuen Sachlichkeit«, gleich am Berliner Bahnhof Gesundbrunnen. Dank Karl Wolffsohns Initiative wurde sein 1929 eröffnetes Berliner Lichtburg-Kino mit 2000 Plätzen das Herzstück der »Gartenstadt«. Kino als Lebensmittelpunkt: Das passte in jeder Hinsicht zu Karl Wolffsohn.
»gartenstadt atlantic« Noch 1937 gelang es Wolffsohn – über Strohmänner in Österreich –, der Besitzer der gesamten »Gartenstadt Atlantic« zu werden und so seine Berliner Lichtburg zu behalten. Das konnte nicht lange gut gehen – und tat es auch nicht: Im Zuge der sogenannten Arisierungen, der Zwangsenteignungen beziehungsweise Zwangsverkäufe, verlor Karl Wolffsohn schließlich all seine Unternehmen, einschließlich der »Gartenstadt«, seiner Kinos und der legendären Berliner Varietés »Scala« und »Plaza«.
Glücklicherweise fand Wolffsohn einen Käufer, der bereit war, einen angemessenen Preis für den unfreiwillig veräußerten LBB-Verlag zu zahlen. Das war leider eine absolute Ausnahme. Wolffsohn wurde sogar in eine monatelange unbefristete »Erzwingungshaft« genommen, um ihm die Berliner Lichtburg »legal« rauben zu können.
essen Karl Wolffsohns Lichtburg in Essen wurde dem Unternehmer schon 1933/34 scheinbar legal abgekauft. Obwohl Wolffsohn Käufer gefunden hätte, die bereit gewesen wären, ihm einen halbwegs angemessenen Preis zu zahlen, bestand der Essener Gauleiter Josef Terboven darauf, dass nur die UFA das Kino erhalten solle.
Der letztlich noch nicht einmal vollständig ausgezahlte und demütigend niedrige Kaufpreis deckte noch nicht einmal ab, was Wolffsohn in das große und moderne Essener Kino investiert hatte. Als Wolffsohn im Februar 1939 nach vollzogener »Arisierung« der Weddinger »Gartenstadt Atlantic« einschließlich der Berliner Lichtburg aus der Gestapo-Haft entlassen wurde, blieb ihm nur wenig Zeit, aus Deutschland zu flüchten.
Anfang Mai 1939 kam Wolffsohn mit seiner Ehefrau Recha in Palästina an, wo die Söhne Max und Willi bereits auf sie warteten. Karl Wolffsohn, fast all seines Vermögens beraubt, bewohnte mit seiner Ehefrau fortan ein Zimmer in einer kleinen Zweiraumwohnung in Tel Aviv. 1942 wurden die Wolffsohns Palästinenser, 1948 dann endlich Israelis. Und blieben natürlich Jeckes.
Viele Kinos musste er weit unter Wert verkaufen. Eines wurde ihm »legal« geraubt.
Nach der Schoa war für Karl Wolffsohn klar, dass er sich endlich Gerechtigkeit verschaffen musste: »Ich überlasse den Räubern nicht das, was sie mir geraubt haben.« Bald musste er jedoch begreifen, dass er – um Gerechtigkeit zu bekommen – persönlich nach Deutschland reisen und um sein Recht kämpfen musste. Dies betraf auch die Lichtburg in Essen. Also reiste das Ehepaar Wolffsohn Ende 1949 nach Deutschland.
entschädigung Karl Wolffsohn war nicht so naiv zu glauben, dass er den tatsächlichen Wert des Kinos und die ihm entgangenen Einkünfte erstattet bekommen würde. Unter seiner Leitung hatte die Lichtburg knapp eine Million Reichsmark jährlich eingenommen, und allein die Inneneinrichtung hatte einen Wert von 800.000 Reichsmark. Wolffsohn hoffte jedoch auf eine zumindest angemessene Entschädigung.
Die Stadt Essen war nach wie vor die Eigentümerin des Gebäudes. Die von der CDU regierte Stadt bestritt nachdrücklich, dass bei dem »Verkauf« des Kinos irgendeine Art von Druck auf Wolffsohn ausgeübt worden war. Wolffsohn wurde schnell klar, dass er sich an die UFA halten musste. Der Prozess gegen das Unternehmen dauerte acht Jahre. Am 6. Dezember 1957, noch vor Ende des Prozesses vor der »Wiedergutmachungskammer« in Essen, starb Karl Wolffsohn. Seine Witwe Recha erhielt schließlich rund 30.000 D-Mark zugesprochen.
Damit war der Raub der Essener Lichtburg nachträglich nahezu legalisiert worden. In einem Fall jedoch siegte Karl Wolffsohns Kampf um Gerechtigkeit: Seine Familie erhielt die »Gartenstadt Atlantic« zurück und führt sie heute im Geiste Karl Wolffsohns weiter, für den unternehmerischer Profit und Sozialethik sehr gut zusammenpassten – und das nicht nur im Kino.