Andreas Brämer

»Ein Kreis, der sich schließt«

»Es würde mich freuen, wenn wir auch in den jüdischen Gemeinden die Hochschule bekannter machen und den Anteil der jüdischen Studierenden erhöhen könnten«: Andreas Brämer Foto: Philipp Rothe

Herr Brämer, Sie haben selbst an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg (HfJS) studiert und sind seit dem 1. Oktober dort Rektor. Ist es für Sie eine Rückkehr an einen immer noch vertrauten Ort?
Ich war Anfang Oktober bei der Einführungsveranstaltung für die neuen Studierenden und habe ihnen erzählt, dass ich 1989 ebenfalls an einer solchen Begrüßungsveranstaltung teilgenommen habe – und dass ich mir damals natürlich nicht vorstellen konnte, 37 Jahre später als Rektor an die Hochschule zurückzukehren. In gewisser Weise ist es ein Kreis, der sich schließt. Ich habe zehn Jahre an der Hochschule erst studiert und meine wissenschaftliche Karriere mit diversen Hilfskrafttätigkeiten begonnen. Das fing an mit einer kurzzeitigen Beschäftigung in der damaligen Mensa – wir haben ja immer noch eine koschere Mensa –, wo ich dem Koch unter anderem bei der Beschaffung von Lebensmitteln geholfen und für die Hochschule Kuratoriumsmitglieder vom Flughafen abgeholt habe. Später war ich in der Bibliothek als studentische Hilfskraft beschäftigt und habe gemeinsam mit dem damaligen Rektor Julius Carlebach in einem DFG-Forschungsprojekt zur Geschichte des Rabbinats gearbeitet. An der Hochschule habe ich meine Frau kennengelernt, wir haben in Heidelberg geheiratet. Ich habe also eine emotionale Beziehung zur HfJS.

Wie hat sich die Hochschule seit Ihrer Studienzeit entwickelt?
Seit den späten 80er- und frühen 90er-Jahren hat sich die Hochschule enorm verändert. Wir haben neue Räume bekommen und die Hochschullehre massiv ausgebaut. Wir haben inzwischen zehn Professuren und eine Gastprofessur, und das unterscheidet sich signifikant von den Studienbedingungen, die ich damals vorfand. Trotzdem sind schon damals viele gute Leute aus der Hochschule hervorgegangen, wie Michael Brenner und andere Kolleginnen und Kollegen, die auf Lehrstühlen oder in Museen untergekommen sind. Heute haben wir ein wunderbares Angebot, das in dieser Form einzigartig ist, und ich freue mich sehr, hier in Heidelberg zu sein.

Einige der Lehrstühle sind derzeit vertretungsweise besetzt – Religionspädagogik, Jüdische Philosophie, Jüdische Kunst. Soll das so bleiben?
Nein, das wird kein Dauerzustand sein. Schon bevor ich gekommen bin, wurden Anstrengungen unternommen, diese drei Lehrstühle neu zu besetzen. Bei einer Professur sind wir schon relativ weit, wir haben Kandidaten gefunden, die wir als geeignet erachten. Es ist ein wichtiger Plan für die nächsten Wochen und Monate, fähige Kolleginnen und Kollegen für die noch vakanten Professuren zu finden.

Werden Sie selbst an der Hochschule auch unterrichten – und falls ja, was?
Zunächst werde ich nicht unterrichten können. Es ist mein Eindruck, dass der Zentralrat der Juden als Träger der Hochschule den berechtigten Wunsch hat, dass ich mich auf die Leitung der Hochschule konzentriere. Ich komme aus dem Bereich Jüdische Geschichte, sollte ich also zukünftig Lehrveranstaltungen anbieten, dann würden sie sich auf jeden Fall mit der deutsch-jüdischen Geschichte im 19., 20. und 21. Jahrhundert beschäftigen.

Sie waren lange Zeit stellvertretender Direktor des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Auf der Website ist zu lesen, dass Sie zur deutsch-jüdischen Zeitgeschichte nach 1945 forschen. Was heißt das genau – bis in die Gegenwart?
Es geht in diesem Projekt um die Diskussionen um jüdische Ritualschlachtung in Deutschland nach 1945. Diese Zeitgeschichte hat eine große Relevanz, wenn wir zum Beispiel sehen, dass die Diskussion um betäubungsloses Schlachten in bestimmten politischen Kreisen ein wichtiger Punkt auf der Agenda ist – also konkret bei der AfD, die ein ausnahmsloses Verbot fordert. Angelehnt auch an die Erinnerung an die Beschneidungsdebatte von 2012 ist es gut, dass man da historische Expertise einbringt.

Sehen Sie es als Aufgabe von Wissenschaftlern, der jüdischen Gemeinschaft in diesen Auseinandersetzungen zur Seite zu stehen?
Ich habe mit den Jahren verstehen gelernt, dass ich nicht einfach nur in meinem Zimmer sitzen und meine Forschung betreiben kann, ohne die gesellschaftliche Realität und Gegenwart miteinzubeziehen. Ich glaube, dass wir mit wissenschaftlicher Expertise der gesellschaftlichen Diskussion fruchtbare Impulse geben können, wie konkret zu den Entwicklungen nach dem 7. Oktober 2023. Johannes Becke, Professor für Israel- und Nahoststudien an der HfJS, und seine Studierenden liefern zum Beispiel regelmäßig in den Medien Beiträge, um die Diskussion zu versachlichen, während die Rabbinerin und Professorin Birgit Klein mit ihren Projekten zum Antisemitismus die Gaming-Welt deutscher Jugendlicher betritt.

Wie schätzen Sie die Situation der Studierenden seit dem 7. Oktober ein? Ist die Hochschule so etwas wie ein Safe Space?
Jüdische und nichtjüdische Studierende sind hier im Haus nicht mit diesen Anfeindungen und dieser Unsicherheit konfrontiert, der sie an anderen Universitäten begegnen. Im vergangenen Sommersemester habe ich an der Universität Hamburg zusammen mit einer Kollegin noch eine Ringvorlesung organisiert, in der wir uns mit dem Thema Antisemitismus in der Gegenwart auseinandergesetzt haben. Diese Veranstaltung wurde massiv gestört, bis hin zu der Tatsache, dass am 8. Mai nach der Vorlesung von Alfred Bodenheimer meine Frau von einer »propalästinensischen« Aktivistin erst beleidigt und dann auch körperlich massiv attackiert wurde. So einen Angriff steckt man nicht so einfach weg.

»Jüdische und nichtjüdische Studierende sind hier im Haus nicht mit diesen Anfeindungen und dieser Unsicherheit konfrontiert, der sie an anderen Universitäten begegnen. «

Sind Sie mit dem Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender in Kontakt?
Ja, bereits im Frühjahr, also noch vor dem Angriff in Hamburg, hatte ich Kontakt zu Julia Bernstein und habe auch an Zoom-Treffen der Unterstützer teilgenommen. Weitere Kolleginnen und Kollegen an der Hochschule sind dort ebenfalls vernetzt.

Wie viele Studierende hat die HfJS momentan – und wie viele hätte sie gern?
Wir haben derzeit 111 Studierende, die schwerpunktmäßig an der Hochschule studieren, und etwa 150 Studierende, die an der Universität Heidelberg eingeschrieben sind, aber zu Veranstaltungen auch zu uns kommen. Ich wünsche mir natürlich, dass es uns gelingt, die Attraktivität dieses Studiums unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen bekannt zu machen und diese Zahlen noch zu erhöhen. Und es würde mich freuen, wenn wir auch in den jüdischen Gemeinden die Hochschule bekannter machen und den Anteil der jüdischen Studierenden erhöhen könnten. Als Hochschule in der Trägerschaft des Zentralrats sehe ich uns in der Pflicht, als Dienstleister für die Gemeinden, den Zentralrat und die Landesverbände mitzuhelfen, kompetentes, qualifiziertes Personal auszubilden. Das bezieht sich insbesondere auf den Bereich der Religionslehrkräfte. Neu ist aber der Bachelor für Jüdische Soziale Arbeit in Kooperation mit der Fachhochschule Erfurt. Zum Curriculum dieses Studiengangs gehören auch Lernblöcke, die diese Studierenden an der HfJS absolvieren.

Geisteswissenschaften sind bei vielen Studierenden heute weniger gefragt als früher. An der Universität Potsdam sagte mir jemand, Jüdische Studien seien heute nicht mehr »in«, stattdessen lägen Islamwissenschaften und Gender Studies im Trend. Sehen Sie das auch so, oder ist das ein Einzeleindruck?
Ich denke, das stimmt. Vielleicht fiel der Höhepunkt des Interesses an Judaistik und Jüdischen Studien in meine Studienzeit in den später 80er- und frühen 90er-Jahren. Das lässt sich auch an der Neueinrichtung von Lehrstühlen zum Beispiel in den neuen Bundesländern ablesen. Ich glaube aber, dass wir durchaus das Interesse von jungen Leuten wecken können, möglicherweise müssen wir einzelne Themenbereiche und Fächer neu justieren. Das betrifft auch die Lehrstühle, die jetzt neu besetzt werden – dass man zum Beispiel versucht, jüdische Kulturerbe- und Gegenwartsthemen aufzugreifen. Viele Kolleginnen und Kollegen setzen dies bereits um.

Wäre es möglich, dafür einen eigenen Lehrstuhl einzurichten?
Da bin ich eher skeptisch, da wir ja mit zehn plus einem Lehrstuhl exzellent aufgestellt sind. Aber ich denke, dass man einen Fokus auf gegenwartsbezogene Themen durchaus auch mit den vorhandenen Lehrstühlen setzen kann. Wie gesagt, das ist teilweise schon Realität.

Was sehen Sie als zentrale Aufgabe Jüdischer Studien?
Auch die klassische Judaistik hat in Forschung und Lehre weiterhin ihre Berechtigung. Ich beobachte aber insgesamt, dass die Zunft sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusster wird als in früheren Zeiten. Soweit wir das können, wollen wir in einer »Third Mission« die Wissenschaft noch mehr in die Gesellschaft hineintragen, um Entwicklungen zu begegnen, die wir mit großer Sorge beobachten.

Eine Frage zum Schluss: Bisher haben Sie zusammen mit der Jüdischen Gemeinde Hamburg die Jüdischen Filmtage organisiert. Kann man sich an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg bald auch auf Filmtage freuen?
Ich muss mich hier jetzt erst einmal auf meine Kernaufgabe konzentrieren. In Hamburg werde ich meine Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde aus Zeitgründen leider nicht fortsetzen können, aber ich bin zuversichtlich, dass wir in Heidelberg oder vielleicht auch in Stuttgart oder Mannheim auf regelmäßiger Basis Filmveranstaltungen auf die Beine stellen können.

Mit dem Historiker und Rektor der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg sprach Ayala Goldmann.

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