Wär’ ich getaufter Christ, wär’ die Sache einfach. Ich würde einen Brief schreiben, des ungefähren Inhalts, dass mir die Sache nicht mehr geheuer sei, an die entsprechende Stelle schicken, auf die Bestätigung warten, dass meine Zugehörigkeit zu dieser Religion ein Ende gefunden habe, und fortan keine Kirchensteuer mehr bezahlen.
Als Jude geht das nicht. Ich bin Jude, weil meine Mutter jüdisch ist, und würde ich nun behaupten, ab heute kein Jude mehr zu sein, wäre das so plausibel, wie wenn ich sagte, dass die alte Frau Meyer nicht mehr meine Mutter sei. Niemand würde sagen: Schade, einer weniger, dumm gelaufen. Sondern vielmehr: Der arme Junge, er ist verwirrt, was können wir für ihn tun? Man würde erwägen, einen Rabbiner loszuschicken. Aber keiner käme auf die Idee, dass ein Jude, der mit dem Judentum nichts zu tun haben will, kein Jude mehr ist.
Langeweile Nun ist es aber tatsächlich so, dass ich mit dem Judentum nichts zu tun haben will. Nie etwas zu tun haben wollte. Der jüdische Teil meiner Familie war schon vor mehreren Generationen nicht allzu religiös; sie waren zu sehr damit beschäftigt, in Russland zu revoltieren und dann vor jenen abzuhauen, die fanden, es müsse auf andere Weise revoltiert werden. Meine Mutter, immerhin, tischte jeweils ein Pessach-Essen auf und zündete zu Chanukka die Lichtlech an. Im Frühjahr erklärte sie dazu, wir würden den Auszug der Juden aus Ägypten feiern, und im Winter, das Wunder des Öllämpchens kehre zu uns zurück. Mir fehlte der Bezug zu diesen Geschichten komplett. Da kommst du aber her, sagte meine Mutter. Und ich fand: Nein, ich komme aus Zürich.
Einige Male nahm sie mich in die Synagoge mit. Ich langweilte mich. Ich verstand die Sprache nicht, ich kannte die Leute nicht, ich konnte die Texte nicht lesen und verstand den Sinn nicht, stundenlang in einem Gebäude auszuharren, in dem Menschen nichts anderes tun, als abwechslungsweise zu singen, zu murmeln, sich zu erheben und wieder zu setzen. Schon damals leuchtete es mir überhaupt nicht ein, warum ich etwas tun soll, das mir keine Freude bereitet. Das wurde später zu einem echten Problem, und ich konnte es nur lösen, indem ich mich beruflich selbstständig machte.
regeln Ich wurde vom Kind zum Jugendlichen, und Religion, jedweder Couleur, wurde für mich vom Fremdartigen zu etwas, an dem ich gehörigen Anstoß nahm. Ich las Zeitungen und Geschichtsbücher und sah, was Menschen einander antaten und antun im Namen ihres jeweiligen Gottes. Wozu sie sich befähigt und bemüßigt fühlen, wenn sie sich unter dieses Banner stellen. Und ich wunderte mich über die vielen seltsamen Regeln: Dieses darfst du nicht, jenes musst du. Ich fragte mich: Warum? Was habe ich davon? Was nützt es mir, am Samstag keinen Lichtschalter zu betätigen?
Wenn ich Religion richtig verstanden habe, bringt mich das Einhalten der religiösen Regeln näher zu Gott. Und wenn ich das wiederum richtig verstanden habe, macht es mich selig. Aber die frommen Juden, die ich in Zürich sehe, und jene, mit denen ich mich unterhalten habe, auch religiöse Christen, eingefleischte Yogis und andere sogenannte Spirituelle – niemand hat auf mich je wirklich selig gewirkt. Sondern verkrampft. Verkrampft unter der Last der expliziten und impliziten Gebote und Verbote. Wie alle, die ihr Leben danach ausrichten, konform zu sein und damit Teil einer Einheit.
Es versteht sich, dass jemand, der so auf seine Herkunft blickt, kein jüdischer Pfadfinder wird, kein Hebräisch lernt, nicht Barmizwa wird und in der Auswahl seiner Freundinnen nicht darauf achtet, ob sie jüdisch sind. Er freute sich jeweils, wenn eine es war, wie ein Jude sich eben freut, unter all den Nichtjuden, die ja gern latent dem Antisemitismus frönen, jemanden zu finden, von dem man sich keine dummen Sprüche anhören muss.
Das ist mein Judentum in der Hauptsache: die Angst vor judenfeindlichen Bemerkungen und die sinnlosen Diskussionen mit den Urhebern. Das ist nicht besonders viel Judentum, ich weiß, aber mehr ist nun einmal nicht in mir drin. Alles Weitere wirkt auf mich so attraktiv wie die Mitgliedschaft in einem Karnevalsverein.
Beerdigung Irgendwann starb mein Großvater. Er war Mitglied einer großen jüdischen Gemeinde in der Schweiz. Wir waren uns sehr nahe, und ich wollte vorn am Sarg mitgehen, um ihm das letzte Geleit zu geben. Doch die sechs Herren, die sich bereits dort aufgestellt hatten, wollten das nicht. Schließlich gab einer unter heftigem Murren einen der beiden hinteren Plätze frei. Ich war empört, und meine Mutter wandte sich an den Präsidenten, der ihr lang und breit erklärte, warum nur Mitglieder der Gemeinde am Sarg mitgehen dürften. Wieder so eine absurde Regel, die persönliche Bedürfnisse erwürgt. Man einigte sich jedoch darauf, eine Ausnahme zu machen, wenn die Beerdigung meiner Großmutter stattfinden würde.
Doch daraus wurde nichts. Im Gegenteil, der Mann vorn am Sarg erhob auf meine höfliche Aufforderung, seinen Platz wie abgemacht freizugeben, ein ausgesprochen unwürdiges Geschrei mitten in der Abdankungshalle, als wäre es seine eigene Großmutter, von deren Leichnam man ihn da verscheuchte. Das Judentum wurde mir noch ein Stück unsympathischer. Ich empfand es noch deutlicher als ein intellektuell, spirituell und vor allem emotional komplett versteinertes Konstrukt, das nur deswegen nicht kollabiert, weil es vom Starrsinn gestützt wird sowie von der Hartherzigkeit und einer merkwürdigen Form sozialen Kontrollwahns.
jerusalem Einige Zeit darauf war ich beruflich unterwegs in Israel, ich las in Tel Aviv und Jerusalem aus meinem teils jiddischsprachigen Roman Wolkenbruchs Reise in die Arme einer Schickse, und an einem freien Abend besuchte ich die Klagemauer, es war irgendein hoher Feiertag, keine Ahnung welcher, interessiert mich ja nicht, und war umringt von betenden Juden. Es gab einen sefardischen Vorsänger und einen aschkenasischen, beide hatten wunderbare Stimmen, und sie sangen Weisen, die sich für mich so anfühlten, als hätten sie schon immer in mir geschwungen, wie auch die Worte, die rund um mich herum gesprochen wurden. Das jüdische Flämmchen, das meine Mutter in mich hineingesetzt hatte bei meiner Geburt, loderte hell auf und wärmte mich.
Was soll der Scheiß, fragte ich mich mit Tränen in den Augen, ich bin nicht religiös! Die spinnen alle, so habe ich das beschlossen! Ich bin keiner von ihnen! Ein Mann reichte mir ein Gebetsbuch. Ich lehnte ab, er insistierte, ich nahm es entgegen und las einen Text, den ich nicht lesen konnte, was ich erstmals aufrichtig bedauerte. Vielleicht stand ja etwas Schönes oder Kluges darin.
alltag Das kleine Flämmchen wurde nach meiner Rückkehr bald wieder schmäler, schon am Flughafen Ben Gurion verkümmerte es, als der Sicherheitsbeamte mich mit seinen frechen Fragen löcherte und kein Hehl daraus machte, dass ich in seinen Augen ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellte. In den Wochen und Monaten danach bombten islamistische Terroristen Hunderte Menschen in den Tod, erschossen oder erstachen sie, weil sie in ihren Augen nicht den richtigen Glauben hatten. Andernorts flüchteten Muslime vor gewalttätigen Buddhisten, vor fanatischen Terrorgruppen oder dem Massenmörder in Damaskus. Schließlich wurde der Clown in Washington gewählt, unter anderem von Leuten, die Religion so auslegen, dass sie Homosexuelle als krank und minderwertig erachten.
Ich finde Religion zum Kotzen, ganz ehrlich. Sie widert mich an. Ich finde, sie ist zu einem großen Teil schuld daran, dass die Menschen so schlecht miteinander auskommen. Aber vielleicht kommen sie ja so oder so schlecht miteinander aus. Vielleicht ist Religion einfach eine bequeme Ausrede für das virulente Bedürfnis, einander doof finden, anschreien und die Köpfe einschlagen zu dürfen. Mit der Behauptung, Religion habe mit Gott zu tun, muss mir wirklich keiner kommen.
Ich werde mein Judentum trotzdem nicht ablegen. Ich kann nicht, und ich will auch nicht. Ich bin, auch wenn ich es für ziemlich meschugge halte, ziemlich stolz darauf. Ich bin stolz darauf, ein jüdischer Autor zu sein, nicht bloß ein Autor, und über das Thema zu schreiben. Welcher rassistische Wind von außen auch immer gegen das jüdische Flämmchen in mir weht, wie sehr die Weltlichkeit in mir es auszupusten versucht, es wird vielleicht für einen Moment schwach und dünn, aber es brennt weiter, denn ich gehöre zum Stamm, weil meine Mutter es tut, über unser beider Tod hinaus, und das ist, meine ich, etwas sehr Schönes.
Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Zürich. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Wolkenbruchs Reise in die Arme einer Schickse« (2012), dessen Verfilmung nächstes Jahr in die Kinos kommt.