Frau Grossman, »Hava Nagila (The Movie)« heißt Ihr Dokumentarfilm, der seit letztem Sommer auf 70 Festivals, vor allem jüdischen, gezeigt wurde. Wie kamen Sie auf das Thema?
Ich bin in einer kalifornischen Vorstadt aufgewachsen, in der das Zentrum jüdischen Gemeindelebens die riesige Synagoge ist. Bei Hochzeiten sowie Bnei Mizwa war »Hava Nagila« immer ein zentrales Kulturelement. Beim Tanzen und Singen von »Hava Nagila« fühlte man sich erst recht so richtig jüdisch, als Teil des Stammes. Später war das Lied für mich und für viele andere, die wir damit aufgewachsen waren, ein Langweiler – bis ich einigen nichtjüdischen Kollegen einmal davon erzählte. Die meinten: »Such danach, das ist ein internationaler Song mit unbekannter Vergangenheit.« Also sind wir der gut 150-jährigen Geschichte dieses Liedes nachgegangen und auf die Spur gekommen.
Angefangen haben Sie quasi bei null.
Bis vor vier Jahren hatte ich nicht den geringsten Schimmer, woher Melodie und Text kommen und was sie bedeuten, ob »Hava Nagila« 1000 oder 100 Jahre alt ist, ob es aus »Fiddler on the Roof« stammt oder ein israelisches Volkslied ist. Dabei war und ist »Hava Nagila« präsent in den Schlüsselmomenten jüdischen Lebens: als Nigun, eine kollektiv gesummte Melodie der Chassidim in Osteuropa, im vor-israelischen Jischuw in Palästina, später als identitätsstiftendes Element amerikanischer Juden und heute als weltweiter Gassenhauer.
Wo liegt der Ursprung des Lieds?
Mit größter Wahrscheinlichkeit in Sadigora in der heutigen Ukraine, wo 1845 der Ruzhiner Rebbe Yisroel Friedman seinen Chassiden-Hof gründete. Vor der Jahrhundertwende lebten in diesem Ansiedlungsrayon bis zu fünf Millionen Juden – »von Minsk bis Pinsk«, wie man gerne witzelte. In Sadigora wurde der Nigun mit der Melodie, die später »Hava Nagila« genannt wurde, von chassidischen Männern gesummt, eines von vielen dieser Gebete ohne Worte. Zwischen 1905 und 1910 gelang einigen Sadigorer Chassiden die Flucht vor der Armut und vor den Pogromen in den Jischuw von Palästina.
Mit »Hava Nagila« im Gepäck.
Im Jischuw stieß der Vater der jüdischen Musikgeschichte, Abraham Zvi Idelsohn, auf den Nigun der Sadigorer. Idelsohn muss man sich als einen von der zionistischen Idee Besessenen vorstellen, der mit merkwürdigen Aufnahmegeräten in Jerusalem herumlief und alles, was nach Musik klang, sammelte. Auf jeden Fall schrieb er die Melodie auf. Ob er es dann war oder sein Schüler Mosche Nathanson, der auf die Melodie die hebräischen Worte setzte, ist bei deren Familien bis heute umstritten. Auf jeden Fall muss das Lied bei den Juden Palästinas offenbar über Nacht zum Hit geworden sein. Denn Idelsohn ließ es 1918 bei einem Konzert zur Feier der Balfour-Erklärung aufführen – und alle tanzten danach. Ab dann gehörte es zum Standardrepertoire bei Hochzeiten. Die Feierlichkeiten zur israelischen Staatsgründung machten es noch populärer.
Und wie kam »Hava Nagila« in die USA?
Über zionistische Kreise. In den jüdischen Gemeinden der USA hieß es, es sei ein palästinensisches oder hebräisches Volkslied. So stand es jedenfalls in den Liederbüchern. Über die Gemeinden hinaus bekannt und zum Massenschlager wurde »Hava Nagila« im Jahr 1959 durch Harry Belafonte. Er nahm das Lied in sein Repertoire auf und trug es in der New Yorker Carnegie Hall vor. Belafonte hat mir im Interview für den Film erzählt, dass »Hava Nagila« in seiner Karriere der zweitbeliebteste Song nach dem »Banana Boat Song« war.
Auch andere nichtjüdische Stars wie Connie Francis und die Countrylegende Glen Campbell haben »Hava Nagila« aufgeführt. Jüdische Musiker wie Bob Dylan und etliche moderne Klezmorim lehnen das Lied dagegen ab. Wieso?
Die jüdischen Kids in den USA rebellierten in den 60er-, 70er- und auch 80er-Jahren gegen das Vorstadtjudentum, das ihnen unhip, beengt und unpolitisch erschien. Sie störten sich am Gemeindeleben in den riesigen Synagogen, die nach außen hin wie jüdische Festungen aussahen. Drinnen wurde geschlemmt, gefeiert und getanzt – auch mit dem Happy-Happy-Hava-Nagila, den grotesk überzogenen Bnei-Mizwa-Partys und den riesigen Israel-Fahnen. Gegen dieses Spießertum, das sie hinterfragten, wandten sich die Jungen und wenden sie sich auch heute noch. Und »Hava Nagila« war ein integraler Teil davon. Das ist verständlich. Ich selbst gehörte früher auch zu den Verächtern dieses Lebensstils und des Songs.
Hat sich Ihre eigene Einstellung zu »Hava Nagila« durch die Arbeit an dem Film geändert?
Heute sehe ich den Kontext anders. Bei den Recherchen für den Film wurde mir deutlich, dass die jüdischen Lebenswelten in den US-Suburbs auch eine kulturelle Antwor auf den Holocaust waren. »Hava Nagila (The Movie)« öffnet eine Tür zu 150 Jahren jüdischer Geschichte. Und ein wichtiger Teil dieser Geschichte handelt vom Holocaust – selbst wenn es nur um einen Song wie »Hava Nagila« geht.
www.havanagilamovie.com