»Noah. Von einem, der überlebte«

Ein Jahrhundertleben

Noah Klieger überlebte Auschwitz, Mittelbau-Dora und mehrere Todesmärsche. Er gehörte zu den wenigen, die nach der Befreiung auch ihre Eltern wiedersehen konnten. Foto: Stephan Pramme

Noah Klieger war ein bekannter Mann in Israel. Die Leser der größten Zeitung des Landes, Yedioth Ahronoth, kannten ihn. Er schrieb über den Eichmann-Prozess und den Demjanjuk-Prozess, und er berichtete über die Basketballspiele der israelischen Nationalmannschaft und von Maccabi Tel Aviv, dessen Präsident er zeitweise war. Er hatte bis zum Alter von 90 Jahren seine eigene Kolumne. Er wurde Ehrenbürger von Ramat Gan. Das israelische Fernsehen produzierte einen Film über sein Leben.

Sein Leben – das bedeutete zunächst einmal Überleben. Takis Würger, der Klieger kurz vor seinem Tod 2018 zugehört hat, erzählt nun davon in einfacher, aber durchaus eindringlicher Sprache.

Klieger half bereits im Alter von 13 Jahren einer Untergrundorganisation in Belgien, Juden in die Schweiz und andere neutrale Staaten zu bringen. Er wurde verhaftet und nach Auschwitz gebracht, wo er dem Tod oft näher war als dem Leben. In der Selektion bereits den Todgeweihten zugewiesen, gelang es ihm, im letzten Moment die Seiten zu wechseln. Klieger »wunderte sich, was ein Mensch aushält, bevor er tot ist«.

Takis Würger hat Klieger kurz vor dessen Tod im Jahr 2018 zugehört.


Obwohl er vorher noch nie geboxt hatte, meldete er sich zur Boxstaffel, um eine Extraration Suppe zu bekommen. Er überlebte Auschwitz, Mittelbau-Dora und mehrere Todesmärsche, und er gehörte zu den wenigen, die nach der Befreiung auch ihre Eltern wiedersehen konnten. Sein Vater Bernard veröffentlichte später seine eigenen Erinnerungen an Auschwitz, wo er in der Schreibstube täglich die Namen der toten Häftlinge ausstrich – und jedes Mal fürchtete, auf den Namen seines Sohnes zu stoßen.

EXODUS Noah Klieger entkam dem Tod auch nach dem Überleben mehrfach nur ganz knapp. So, als er zu den 4500 Passagieren gehörte, die sich 1947 auf der »President Garfield« – besser bekannt unter ihrem angenommenen Namen »Exodus 1947« – dazu aufmachten, nach Palästina zu gelangen, und dann von den Briten vor der Küste Palästinas abgefangen wurden. Klieger wollte keinesfalls nach Europa zurückgebracht werden und sprang aus Verzweiflung ins offene Meer, wo er ertrunken wäre, hätte ihn nicht ein britisches Schiff gesucht und aufgenommen.

Würger schreibt dieses Buch »in der Tradition der »Oral History«. Er möchte Geschichte so aufzeichnen, wie die Zeitzeugen sich erinnern. Nur muss man sich bewusst sein, dass es eben nicht die Zeitzeugen selbst sind, die hier zu uns sprechen. Klieger selbst hatte einen Teil seiner Erlebnisse bereits vor zehn Jahren in dem Band Zwölf Brötchen zum Frühstück. Reportagen aus Auschwitz veröffentlicht. Würger erwähnt auch ein unveröffentlichtes Manuskript Kliegers mit dessen Erinnerungen. Es wäre interessant zu sehen, wie dieses sich von Würgers Aufzeichnungen unterscheidet.

Dass Erinnerungen sich auch manchmal täuschen können, räumt Würger offen ein. Und das ist gut so. Dadurch entsteht ein Buch, das sich auch mit den Herausforderungen der Oral History für den Chronisten auseinandersetzt. War es wirklich Josef Mengele, der Klieger nach links statt nach rechts schicken wollte? Der war eigentlich in Birkenau und nicht in Monowitz. War Klieger ein Jahr oder zwei in Auschwitz? Die Häftlingsnummer lässt anderes vermuten als die Erinnerung des Häftlings.

Darauf hinzuweisen, ist der historischen Genauigkeit geschuldet. Nicht jede Aussage Kliegers lässt sich im Detail belegen, doch an der Grunderzählung gibt es keine Zweifel.

Das Buch setzt sich mit den Herausforderungen der Oral History auseinander.

Nach Deutschland wollte der in Straßburg geborene und in Belgien aufgewachsene Klieger eigentlich nie zurückkehren. Das erste Mal kam er aber bereits Anfang der 60er-Jahre als Zeuge zum Auschwitz-Prozess. In seinen letzten Lebensjahren besuchte er Deutschland dann öfter, um als Zeitzeuge in Schulen zu sprechen. Nun wird seine Geschichte, die wie die aller Überlebenden einzigartig ist, auch einem größeren deutschsprachigen Lesepublikum bekannt gemacht. Ein großes Glück für den Leser und ein wichtiger Beitrag zur Erinnerung an die Schoa.

BRUDER Diese Rezension könnte hier aufhören, doch bin ich mir sicher, dass Noah Klieger nichts dagegen gehabt hätte, wenn ich das Erscheinen dieses Buches zum Anlass nehme, auch ein wenig über seinen in der Öffentlichkeit nicht bekannten Bruder zu erzählen.

Julius Jonathan Klieger, benannt nach seinem fernen Vorfahren Rabbiner Jonathan Eybeschütz, war mein Religionslehrer. 14 Jahre lang. Von meinem fünften Lebensjahr bis zum Abitur war er neben meinen Eltern der einzige Erwachsene, dem ich Woche für Woche begegnete. Als Wanderlehrer für die wenigen jüdischen Kinder in Nordbayern reiste er mit dem Zug und mit dem Bus – und manchmal auch auf dem Mofa seiner Tochter Alice – von Weiden nach Amberg, von Cham nach Hof. An den Feiertagen betete er in der Weidener Synagoge vor.

Vielleicht war er nicht das, was man als typischen Pädagogen bezeichnen würde. Es war ja auch kein typischer Unterricht. Wir waren entweder zu viert oder zu dritt oder zu zweit, verschiedene Jahrgänge waren versammelt, und oft wiederholte sich der Stoff Jahr für Jahr.

UNTERGRUND Rabbiner Klieger machte sich mitten im Unterricht ein Glas Tee, und er aß regelmäßig eine Banane. Er erzählte von seiner Zeit im Untergrund – und so ganz klar war uns Kindern nicht immer, dass er damit nicht die U-Bahn in London, wo er den Krieg überlebt hatte, sondern den zionistischen Widerstand gegen die britische Besatzung meinte. Er bläute uns ein: Deutschland ist kein Platz für Juden. Er sagte: Wenn eure Eltern euch nichts beibringen, kann ich euch in den zwei Stunden Religionsunterricht pro Woche auch nichts beibringen.

Er hat uns sehr viel beigebracht. Nicht nur Hebräisch zu lesen und zu schreiben, nicht nur die Sprüche der Väter, nicht nur meine Barmizwa-Parascha. Nein, er hat uns beigebracht, dass es noch einen anderen Lehrplan als den vom Kultusministerium vorgeschriebenen gibt. Er hat uns beigebracht, wie man als Jude in Deutschland zweifeln kann und doch nicht verzweifeln muss. Er hat sich mit uns über Politik und Gesellschaft, über Deutschland und Israel, über Gott und die Welt unterhalten wie mit Erwachsenen. Er hat sich die Probleme von Heranwachsenden angehört. Er hat uns gelehrt, was die wichtigen Fragen im Leben sind.

Julius Jonathan Klieger hat mein Interesse für die jüdische Geschichte geweckt. Er erzählte von Rabbi Akiba und Elischa ben Abuja, von Maimonides und von Spinoza.

In seinen letzten Lebensjahren sprach er oft als Zeitzeuge in deutschen Schulen.

Von Auschwitz und dem Schicksal seines Bruders, seiner Eltern und auch seinem eigenen erzählte er wenig, denn er wusste, in der einen oder anderen Variation war dies auch das Schicksal aller unserer Eltern, von dem wir zu Hause ohnehin erfuhren. Doch das Buch seines Vaters stand bei uns im Bücherregal. Das Schicksal seiner Familie kannten wir.

LÜCKE Noah Klieger war ein bekannter Mann, dessen Leben in vielfacher Hinsicht bemerkenswert war und dessen Tod in Israel eine Lücke riss. Noah, das seine Überlebenserzählung dokumentiert, sei vielen, vor allem jungen Lesern ans Herz gelegt. Gerade in Deutschland aber soll das Erscheinen von Noah auch seinen Bruder Jonathan Julius Klieger in Erinnerung rufen, der trotz seiner Zweifel über eine Zukunft jüdischen Lebens in diesem Land seinen Teil dazu beitrug, dass jüdische Bildung nicht ganz aus Deutschland verschwand.

Der Autor ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Takis Würger: »Noah. Von einem, der überlebte«. Penguin, München 2021, 188 S., 20 €

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