Ephraim Veitel Stiftung

Ein historisches Juwel

An einen Tag im Oktober 2002 wird sich Karl Erich Grözinger immer ganz besonders intensiv erinnern. Der Religionswissenschaftler war zu diesem Zeitpunkt gerade vollauf damit beschäftigt, an der Potsdamer Universität das Kollegium für Jüdische Studien aufzubauen.

Die Institutsneugründung 1994 war von historischer Bedeutung: Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte sollte das Judentum nicht nur als Religion, sondern interdisziplinär in seiner gesamten kulturellen Breite an einer staatlichen Universität dargestellt werden. Die Gründungsphase sei eine stressige, turbulente Zeit gewesen, sagt der 75-Jährige rückblickend. Der gebürtige Schwabe mit der runden Brille und dem weißen Bart ist einer der Väter des Instituts.

Im Oktober 2002 durfte er die Bibliothek des niederländischen Rabbiners Yehuda Aschkenasy (1924–2011) aus dem holländischen Hilversum in Augenschein nehmen, die er später für die Potsdamer Universitätsbibliothek erwarb.

bibliothek Yehuda Aschkenasy war ein begieriger Büchersammler. Neben vielen wissenschaftlichen Werken zum Judentum hatte er eine umfangreiche Sammlung wertvoller alter hebräischer Bücher aus der DDR aufgekauft und sie zu einer einmaligen jüdischen Bibliothek zusammengetragen. »Unsere Institutionsbibliothek in Potsdam musste ausgestattet werden. Es war ein gewöhnlicher Bücherankauf«, sagt Grözinger.

Er konnte damals kaum ahnen, dass dieser Bücherkauf ihn zu einer historischen Recherche führen würde, die einem Krimi in Nichts nachsteht. Einer Recherche in Archiven und Bibliotheken, die ihn mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte und dem ausgeprägten Bedürfnis, im Nachkriegsdeutschland die Vergangenheit möglichst rasch zu vergessen, konfrontieren wird. Einer ganz persönlichen Recherchearbeit, die den Wissenschaftler am Ende zum Vorsitzenden einer jüdischen Wohltätigkeitsstiftung machen würde, die die wahrscheinlich am längsten existierende in Deutschland ist.

Denn dass die Ephraim Veitel Stiftung heute wieder eine jüdische Stiftung ist, die sich per Satzung auf ihre Gründung im Jahr 1799 berufen kann, ist zu einem großen Teil das Verdienst des Judaisten.

fälschung Alles begann mit einem Stempel. »Als ich die Bücher in Hilversum untersuchte, fiel mir sofort eine Anzahl von letztlich 71 Bänden auf«, erinnert sich Grözinger. Die Bücher stammten aus dem 17. bis 19. Jahrhundert. Sie waren reich verziert. Alle hatten sie einen auffälligen Stempel im Einband: »Veitel Heine Ephraimsche Lehranstalt« stand dort geschrieben.

»Veitel Heine Ephraimsche Lehranstalt«? Davon hatte er, der ausgewiesene Experte für jüdische Geschichte in Preußen und Deutschland, noch nie etwas gehört. Was hatte es damit auf sich? Woher stammten diese alten Bücher? Die Lexika konnten ihm nicht weiterhelfen. Die Fachkollegen in Potsdam und Israel auch nicht. Sie zuckten geflissentlich mit den Schultern. »Das ist eine Fälschung. So eine Lehranstalt hat es nie gegeben«, so die einhellige Meinung.

Also alles bloß Fake? Dieses apodiktische Urteil konnte der Wissenschaftler Grözinger nicht einfach akzeptieren. Seine wissenschaftliche Neugier war geweckt. Die Recherche begann. Potsdam war der richtige Standort.

lehranstalt Im Landeshauptarchiv wurde er fündig. Historische Dokumente belegten die Existenz dieser 1783 vom dem königlich preußischen Hoffaktor Veitel Heine Ephraim in Berlin gegründeten Lehranstalt für jüdische Religionswissenschaft und Talmudlehre.

Grözingers Recherchen ergaben, dass die Schule noch vor der 1872 ins Leben gerufenen, allgemein bekannten Hochschule für die Wissenschaft des Judentums die erste jüdische Lehranstalt in Preußen und Deutschland überhaupt war. Zwischen 1921 und 1924 wurde sie geschlossen. Und geriet in Vergessenheit.

Die 71 überaus wertvollen Bücher aus dem Nachlass des Rabbiners Yehuda Aschkenasy waren Teil der verschollen geglaubten Lehranstaltsbibliothek. Finanziert wurde die Anschaffung der Bücher Anfang des 19. Jahrhunderts mit Geldern der Ephraim Veitel Stiftung.

hofjuwelier Stifter Ephraim Veitel war der Sohn von Veitel Heine Ephraim. Auch er war Hofjuwelier und Münzunternehmer am Preußischen Hof Friedrichs des Großen und gehörte zu der angesehenen Familie von sogenannten Hofjuden. Diese hatten eine Tradition: ihren erarbeiteten Wohlstand in Form von Stiftungen auch an ihre jüdischen und christlichen Mitbürger weiterzugeben. Grözinger hat die originale Stiftungsurkunde vom 6. Februar 1799 bei seinen Recherchen zur Lehranstalt im Potsdamer Landeshauptarchiv gefunden. Quasi als Beifang.

Aus der Urkunde geht hervor, dass die Stiftung drei Förderziele hatte. Das erste Drittel des ursprünglichen Gesamtvolumens von »33.333 Reichsthalern und acht Groschen Preußischer Courants« sollte für die Förderung des Studiums der Heiligen Schrift und des Talmuds ausgegeben werden, das zweite Drittel zur Krankenfürsorge, vor allem für kranke Arme aus der weit verzweigten Stifterfamilie, und der dritte Teil zur Finanzierung der Aussteuer armer, junger Bräute aus der Verwandtschaft.

»Mir war gleich klar: Ich bin auf ein historisches Juwel gestoßen«, beschreibt Entdecker Grözinger seine ersten Gedanken, die ihm im Archiv durch den Kopf schossen. Doch was war aus dieser preußisch-jüdischen Stiftung geworden? Warum war sie mitsamt der Lehranstalt in Vergessenheit geraten? Hatte sie die NS-Zeit überlebt?

Arisierung Grözinger wollte es ganz genau wissen. Er vertiefte sich weiter in die Recherche über die Ephraim Veitel Stiftung. Er konnte sogar Kontakt zum Stiftungsvorstand aufnehmen. Dazu musste er nur den Telefonhörer abnehmen und eine Bonner Nummer wählen. Denn: Die Stiftung existierte. Allerdings unter anderem Namen.

Als Grözinger mit der damaligen Vorstandsvorsitzenden Kontakt aufnahm, nannte sich die Stiftung »Stiftung von 1803«. »Es gibt da so ein Gerücht, dass wir einmal eine jüdische Stiftung waren«, sagte ihm die Dame damals am Telefon.

Es war kein Gerücht, sondern historische Realität. Die Ephraim Veitel Stiftung war, wie alle jüdischen Stiftungen, mit dem Beginn der Naziherrschaft in ihrem Bestand bedroht. Durch Enteignung, Umwidmung und Zwangsangliederung – »Arisierung«, wie es im Nazi-Jargon hieß. 1939 wurde ein diesbezügliches NS-Stiftungsgesetz erlassen.

Zu dem Zeitpunkt gab es die Ephraim Veitel Stiftung schon nicht mehr. Jedenfalls nicht unter diesem Namen. Die Nationalsozialisten änderten den Namen in »Stiftung von 1803« und spielten damit auf das Jahr an, in dem die Stiftung wirksam geworden war. Die jüdischen Vorstandsmitglieder wurden aus ihren Ämtern entlassen, finanzielle Zuwendungen wurden nur noch an »arische« Deutsche ausgegeben und die Stiftung wurde mitsamt ihrer Zielsetzungen als »rein deutsche« uminterpretiert. Der Anspruch einer allgemeinwohlorientierten jüdischen Stiftung war zunichtegemacht, die Erinnerung an den Namensgeber getilgt.

ironie »Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Namensänderung die Stiftung vor einer Zwangsauflösung und damit vor dem Schicksal der anderen jüdischen Stiftungen zu der Zeit bewahrt hat«, meint Judaist Grözinger. Deswegen könne man heute mit historischer Sicherheit sagen, dass die Ephraim Veitel Stiftung die älteste jüdische Stiftung in Deutschland ist, die seit ihrer Gründung bis heute ununterbrochen besteht.

Die historischen Spuren der Stiftung haben sich nach 1945 auch deswegen verloren, weil sehr zielgerichtet an einer Verschleierung der Hintergründe gearbeitet wurde. Hatte doch der in der NS-Zeit eingesetzte Vorsitzende, um die Enteignung von einst zu vertuschen, den Sitz der Stiftung von Berlin nach Bonn verlegt. So wollte er sich der Prüfung durch die alliierte Stiftungsbehörde entziehen.

Mit offensichtlichem Erfolg: In Bonn stellte keine Aufsicht Fragen. Die aufkommende Ost-West-Konfrontation mit ihren neuen politisch-ideologischen Prioritäten hatte Vorrang.

gerechtigkeit Über die »Stiftung von 1803« beziehungsweise die Ephraim Veitel Stiftung legte sich ein Schleier des Schweigens. Das Stiftungskapital war nach dem Krieg in eine Ost- und Westabteilung aufgeteilt und stark reduziert. Der Vorsitzende, der von den Nazis eingesetzt worden war und seinen Posten auch nach 1945 beibehielt, überwies sich dennoch jährlich sein Verwaltungshonorar – freilich ohne Stiftungstätigkeiten auszuführen. Unangenehme Fragen der Behörden musste er nicht fürchten.

»Ich bin wütend gewesen und habe Ekel empfunden«, beschreibt Grözinger mit bebender Stimme den Moment, als er in Erfahrung brachte, dass sich der Vorsitzende aus der NS-Zeit zeitlebens gegen eine rechtmäßige Re-Judaisierung der Stiftung gewehrt hatte. »Die nominelle und satzungsmäßige ›Wiedergutmachung‹ musste bis 2001, bis zum physischen Abtreten der Akteure aus der Nazi-Zeit, warten«, berichtet Grözinger empört.

engagement Nachdem er seine Recherchen abgeschlossen hatte, begann Grözinger, sich für die jüdische Stiftung zu engagieren. Er wollte dazu beitragen, sie ihrem Ursprungssinn zurückzuführen, nun, nachdem seine Forschungen die historischen Gegebenheiten aufgedeckt haben – »um ein Stück Gerechtigkeit wiederherzustellen«, wie der Wissenschaftler sagt.

2007 wurde Grözinger Vorsitzender der Ephraim Veitel Stiftung. Nach zähen Verhandlungen mit den Behörden konnte der historische Name wiedereingesetzt und die Satzung novelliert werden. Damit wurden die ursprünglichen Stiftungsziele, angepasst an die heutige Zeit, wieder in Kraft gesetzt.

erziehung Künftig will man Projekte der jüdischen Erziehung und des interkulturellen Austauschs fördern, darunter Schülerreisen nach Polen, Jugendleiterseminare und Gruppenreisen nach Israel. Dafür ist die Stiftung allerdings auf Spenden angewiesen.

»Die Stiftung ist ein historisches Faktum erster Güte. Der jüdischen Gemeinde kann sie heute als Anknüpfungspunkt an die reiche deutsch-jüdische Geschichte vor dem Nationalsozialismus dienen und der Berliner Öffentlichkeit zur institutionellen Wiedergutmachung gereichen«, sagt Grözinger.

Noch im Mai soll der Stiftungssitz von Bonn nach Berlin verlegt werden. Damit wird eine altehrwürdige Institution an ihre Geburtsstätte zurückgeführt.

www.ephraim-veitel-stiftung.de

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