»Ich bin Yumi aus Kobe«, sagt die junge Frau, nachdem sie sich verbeugt hat. »Ich bin Gideon aus, äh, nirgendwo im Moment«, antwortet Gideon Lewis-Kraus. Die Antwort ist natürlich Unsinn, wie wir wissen, denn wir sind schon auf Seite 225, im zweiten Drittel seines Buches über das Pilgern. Wir wissen, dass Gideon aus den USA kommt, Sohn zweier Rabbiner und Bruder von Micah ist. Micah lebt in Shanghai und hat eine beneidenswert gut funktionierende Beziehung.
Der Vater der beiden ist mittlerweile schwul und das Verhältnis zwischen Gideon und ihm ist ziemlich zerrüttet, aber auf dem Weg der Besserung. Gideon hat eine Wohnung in Berlin und die offensichtlich üblichen Künstlerfreunde, aber keine gut gehende Beziehung. Genau genommen, hat er gar keine oder nur flüchtige Verhältnisse. Er hat keine rechte Orientierung, und deshalb pilgert er durch Shikoku, eine kleine und offensichtlich recht hässliche Insel im Süden Japans.
szene A Sense of Direction. Pilgrimage for the Restless and the Hopeful heißt das Buch, in dem Gideon Lewis-Kraus seine Beobachtungen und Erfahrungen als Pilger und als Wanderer sammelt. Vielleicht kann man Lewis-Kraus bereits als Wanderer bezeichnen, bevor er zum Pilger wurde, »weg von den Problemen der Unschlüssigkeit, weg von Langeweile und dem Verdacht, dass interessantere Dinge an angesagteren Orten attraktiveren Menschen geschähen.« Deshalb lebte er eine Weile in San Francisco, bevor er, wie offensichtlich viele leicht willenlose Spätjugendliche einem Versprechen folgte, dass seit über einem Jahrzehnt durch alle Gazetten der Welt spukt: Berlin.
Lewis-Kraus kam also nach Berlin. Altbauten, Vernissagen, billiger Alkohol, Sex und lange schlafen: »Berlin war ein Experiment in totaler Freiheit von Autorität, eine Art endlos langes Wochenende an dem die Eltern verreist waren.« Als Jude hatte man manchmal auch den Holocaust auf seiner Seite und das half, um mit einer Frau zu schlafen, die einen Freund hatte. Bevor man mit der Frau zu jenem Freund ging. Aber irgendwann wurde es fade, kam es Gideon-Kraus vor, als sei er der Animateur in einer Stadt, in der kaum jemand Arbeit hat und alle ständig im Café sitzen. Gerade weil in Berlin so viel möglich war und es keine echten Sorgen zu bekümmern gab, sehnte er sich nach Richtung und Regeln.
pilger So wird aus dem Wanderer der Pilger. Mit Kumpel Tom geht er den Jakobsweg hinunter, munter parlierend und mit lässigen Kommentaren. Der Umstand, dass Pilgern auch eine säkulare Qualität hat, die eines Rituals, das nicht über sich hinausweist, befreit sie von jeder religiösen und spirituellen Enge. Während das Wandern offensichtlich einer Suche glich, ist das Pilgern etwas, das man nicht finden muss.
Aber natürlich finden Gideon und Tom und beobachten: Freunde und solche, die vorbeiziehen. Es ist eine Art Coming-of- Age-Erzählung einer Figur, die wir gut zu kennen scheinen. Der privilegierte Kosmopolit, nicht weit vom Bildungsbürgertum, der einerseits das freie Feld vor sich sieht und ein bisschen daran verzweifelt. Andererseits wird Lewis-Kraus’ Figur das Gefühl nicht los, dass die Welt diesem Spätjugendlichen stets noch ein Snickers schuldet: Das eigene Tun ist belanglos und als solches erkannt, der Vater völlig von sich selbst absorbiert, das Familienkonstrukt über alle Herren Länder verstreut. Gideon Lewis-Kraus führt uns mit bemerkenswerter Offenheit in das verstörende Innenleben eines Hipsters.
ironie Allerdings tut er dies mit Hintersinn und freundlicher Ironie. Mark Greifs Definition zufolge sind Hipster Menschen, die »Konsumentscheidungen als eine Kunstform verstehen«, auf der Suche »nach Distinktion und Exklusivität« im Massenkommerz. Lewis-Kraus beschreibt seinen beeindruckenden Marsch, der ihn zeitweilig aus dieser Welt hinausführt. Zunächst der Jakobsweg, dann 1200 Kilometer um Shikoku. Schließlich mit dem Vater eine Versöhnungsreise durch die Ukraine und dann eine Zugfahrt zurück nach Berlin.
Mehr als drei Jahre ist Lewis-Kraus unterwegs, es gibt viele Schmerzen, viel Regen und schlechte Unterkünfte. Aber schließlich findet er zu einer sympathisch-atheistischen Weltbegründung des tätigen Lebens. Überhaupt ist A Sense of Direction ein erfrischendes Buch, weil es auf den banalen spiritistischen Selbstfindungs-Schrott weitgehend verzichtet, mit dem immer mehr Menschen ihren Halt in einer Welt aus Ausbeutung, Fragmentierung und rasch tickenden Uhren zu verorten versuchen.
Wer Wolfgang Büschers heiter-poetischen Fußmarsch Berlin-Moskau verschlungen hat, stellt fest, dass Lewis-Kraus auch schön formuliert, vor allem aber introspektiv und sehr auf Pointe schreibt. Seine Gesprächspartner werden oft zu Hilfsfiguren für Erkenntnisse oder Lieferanten für absurde Sätze am Ende des Abschnitts. Das Pilgern ähnelt manchmal der Welt der Berliner Vernissagen.
Gideon Lewis-Kraus: » A Sense of Direction. Pilgrimage for the Restless and the Hopeful«. Riverhead Books, New York 2012, 344 S., 21,30 US-$