Vor 50 Jahren habe ich in Wiesbaden Abitur gemacht. Inzwischen wohne ich in Berlin. Deshalb hatte ich es nicht geschafft, zum Treffen meines Abi-Jahrgangs vor ein paar Monaten in die alte Heimat zu fahren. Der Termin lag ungünstig. Zum Glück bin ich nicht der Einzige aus unserer Klasse, den es in die Hauptstadt verschlagen hat.
Auch zwei Mitschülerinnen von damals leben inzwischen hier. Die beiden mailten mich vor einiger Zeit an und schlugen vor, dass wir uns treffen. Das haben wir vorige Woche getan. In einem Restaurant unterhielten wir uns bei Essen und Wein über frühere Klassenkameraden, Lehrer von damals, unsere Lebenswege nach dem Abitur, die Vor- und Nachteile des Alters – worüber man eben so redet, wenn man sich sehr lange nicht gesehen hat.
THEMA Nicht zur Sprache kamen an dem Abend das israelische Einreiseverbot für zwei US-Kongressmitglieder, das Für und Wider eines Schächtverbots in Niedersachsen und die neueste Antisemitismus-Statistik aus Brandenburg. Auch die Warnung des Zentralrats vor der AfD war kein Thema. Selbst als die eine Klassenkameradin erzählte, dass sie am Wochenende zu einem Konzert von Daniel Barenboims »West-Eastern Divan Orchestra« in der Berliner Waldbühne gehen werde, diskutierten wir die musikalische Qualität des Ensembles, nicht aber dessen politische Bedeutung.
Ich interessierte die beiden als der frühere Mitschüler, den sie lange nicht gesehen hatten.
Nicht, dass meine Mitschülerinnen nicht wussten, dass ich jüdisch bin. Ich war, wenn ich mich recht erinnere, der einzige Jude in unserer Klasse, vielleicht sogar in der ganzen Schule. Wir haben bei dem Treffen die Themen Judentum, Israel und Antisemitismus auch nicht krampfhaft höflich vermieden, gemäß der Knigge-Regel, dass sich bei Tisch Konversationen über Politik und Religion nicht gehören.
Nein, es war viel einfacher: Dass ich jüdisch bin, war an diesem Abend irrelevant. Ich interessierte die beiden als der frühere Mitschüler, den sie lange nicht gesehen hatten. Nicht mehr und nicht weniger. Auch deshalb war es ein ausgesprochen angenehmes Treffen. Ich könnte auch sagen, ein selten angenehmes Treffen.
ATMOSPHÄRE Es gibt ein Wort für die Atmosphäre dieses Abends. Man nennt es Normalität. Die allerdings ist nicht die Norm. Eigentlich sollte es alltäglich sein, dass, wenn Freunde, Kollegen oder, wie in diesem Fall, ehemalige Klassenkameraden zusammensitzen und einer jüdisch ist, das keine Rolle spielt – weil es normal ist und niemand darum Aufhebens macht.
Tatsächlich erlebe ich es häufig anders. Ob Fete oder Fachtagung – oft werde ich als eine Art Exot wahrgenommen, von dem nicht selten noch erwartet, ja gefordert wird, Stellung zu beziehen zu Fragen oder Vorwürfen, die dem Gegenüber offensichtlich unter den Nägeln brennen, auch wenn sie mit dem Anlass nichts zu tun haben. All das haben meine Klassenkameradinnen mir erspart, was ich ihnen hoch anrechne. Nur schade, dass Normalität, wie an diesem Abend, so selten vorkommt, dass sie mir schon auffällt. Normal ist das nicht.