Sie kennen vielleicht das YouTube-Video, das vor einigen Jahren die Runde machte: Da sitzt ein alter Mann im Publikum einer britischen TV-Show Ende der 80er-Jahre, was an der Gastgeberin deutlich zu erkennen ist. Diese erzählt von einem Mann, der kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Hunderte Kinder aus der von den Nazis besetzten Tschechoslowakei gerettet hat, indem er einen »Kindertransport« nach Großbritannien organisierte. Dann fragt sie ins Publikum, ob einige dieser Kinder heute hier seien, und plötzlich stehen alle Menschen um den alten Mann herum auf. Gänsehaut. Kloß im Hals.
Dieser weißhaarige Mann, der sich kurz hinter der dicken Brille die Augen reibt, heißt Nicholas Winton, und seine Geschichte ist nun im Kino zu sehen in dem Film One Life.
Solides Biopic mit Anthony Hopkins
Niemand Geringeres als Sir Anthony Hopkins spielt Winton in dem soliden Biopic von James Hawes, und der Ausnahmeschauspieler beschrieb im Interview mit der BBC, wie sehr ihn die große Szene, die natürlich auch im Film vorkommt, bewegt habe, da bei den Dreharbeiten tatsächlich einige der Nachkommen der Geretteten dabei waren. 6000 sollen es heute insgesamt sein. Winton sei ein Held gewesen, so Hopkins. Etwas, das Winton selbst nicht so gesehen hat. 50 Jahre lang haben er und die anderen jungen Aktivisten, die damals in Prag ihr Leben riskierten, um gefährdeten Menschen zu helfen, nicht wirklich darüber gesprochen.
Mit ebendieser Sprachlosigkeit beginnt auch der Film. Als der alte Winton sein Büro aufräumt, kommt eine lederne Aktentasche zum Vorschein, die den Mann mit Schmerz zu erfüllen scheint. Ein Souvenir aus der Vergangenheit, von dem er genau weiß, wo es ist, das er aber lieber dort lässt: ein Album mit Fotos der Kinder, die er einst zu retten versuchte.
Flashbacks bringen den Zuschauer zurück ins Jahr 1938, als die Nazis dem Appeasement-Irrglauben verfallenen Europa das Sudetenland abtrotzen. Winton, der als Börsenmakler in London ein komfortables Leben lebt, nutzt zwei Wochen Urlaub, um Freunde in Prag zu besuchen, die dort gestrandeten Menschen, meist Juden, dabei helfen wollen, dem schwelenden Kontinent zu entkommen. Großartige Frauen und Männer, einzig ihrer Ethik verpflichtet. Winton besucht auch die Lager außerhalb Prags, wo die Geflüchteten den Winter in Zelten erwarten, und er sieht Kinder, die keine Chance haben. Da seine Freunde vom Britischen Komitee für Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei sich vor allem um politische Gefährdete kümmern, verlängert Winton seinen Urlaub und plant die Rettung der Kinder.
»Wenn etwas nicht unmöglich ist, muss es einen Weg geben«, sollte er später über seine unglaubliche Aktion sagen, der seine Kollegen vor Ort, seine Mutter in London und Hunderte britischer Spender und Familien den Weg ebneten. Damit ein Kind in den Zug steigen konnte, der mitten durch Nazideutschland in die Niederlande fuhr, von wo aus es mit der Fähre nach Großbritannien weiterging, brauchte es Papiere, Geld und eine Familie, die es auf der Insel aufnehmen würde.
»Wenn etwas nicht unmöglich ist, muss es einen Weg geben.«
Nicholas Winton
Die grandiose Helena Bonham Carter spielt Wintons Mutter, die mit einem unerschütterlichen Blick selbst den letzten versteinerten britischen Beamten erweicht. Die Wintons selbst hießen früher Wertheim und waren deutsche Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach England kamen, wo die Familie zum Christentum konvertierte. »Alle wollen weg aus Europa, aber mein Sohn fährt hin«, ist einer ihrer lakonischen Sprüche. Lakonisch und bei aller Sorge auch stolz, denn sie weiß, dass ihr Sohn das Richtige tut.
Vor allem zwei Szenen bleiben, wenn der Film vorbei ist, abgesehen vom großen Finale natürlich. Einmal versucht der junge Winton in Prag an eine Liste mit den Namen jüdischer Kinder zu kommen, die er für die Visa braucht. Die Eltern sind zutiefst misstrauisch, und dann sitzt er plötzlich in der Altneuschul einem Rabbi gegenüber (gespielt von Samuel Finzi), der ihn fragt, wer er eigentlich sei. Die Frage, die viele Menschen sich erst in einer Krisensituation stellen.
Der letzte Zug mit 250 Kindern hat Prag nie verlassen
Die andere Szene spielt in den 80er-Jahren im Salon der Holocaustforscherin Elisabeth Maxwell, Frau des Medienmoguls Robert Maxwell, die als Erste begreift, was für eine Geschichte sich in Wintons abgegriffener Aktentasche versteckt. Sie spricht ihn direkt auf den letzten Zug an, mit dem 250 Kinder in Sicherheit gebracht werden sollten. Am 1. September 1939. Der Zug hat Prag nie verlassen, denn der Krieg brach aus. Soweit bekannt ist, haben nur zwei der Kinder die Schoa überlebt.
Und das ist wohl auch eine Erklärung für 50 Jahre Schweigen. Winton hat sich immer auch schuldig gefühlt: weil er die Kinder im letzten Zug nicht retten konnte, weil er nicht mehr getan hat. Es ist, als würde der Film selbst ein wenig einreißen, wenn Winton versucht, seine größte Wunde vor der Dame zu verstecken. Zum Glück hat die Wirklichkeit ihm das Treffen mit den Geretteten und deren Nachkommen geschenkt, um ihm zu zeigen, dass jedes einzelne Leben zählt.