Marlyn Vinig

»Ein Film ist wie ein Flugticket«

Foto: privat

Frau Vinig, die Filmfestivals »Seret« und »jfbb« haben am Sonntag im Jüdischen Museum Berlin »Entangled« gezeigt, einen Spielfilm der ultraorthodoxen Regisseurin Dina Perlstein aus Israel. Was war besonders an dieser Veranstaltung?
Normalerweise zeigen Dina Perlstein und andere ultraorthodoxe Regisseurinnen ihre Filme nur innerhalb der charedischen Gemeinschaft. Dass ein Film, der explizit für charedische Frauen produziert wurde, auch der Außenwelt gezeigt wird, ist etwas Neues. Zum ersten Mal in diesem Rahmen wurde »Entangled« Ende Juni bei »Seret« in London präsentiert. Es gab schon 2015 den Versuch, einen ultraorthodoxen Frauenfilm ins Programm aufzunehmen, aber die Regisseurin Rechy Elias wollte ihn damals nur vor einem rein weiblichen Publikum in London zeigen, und »Seret« hat die Vorführung deswegen wieder abgesagt.

»Entangled« ist in Berlin positiv aufgenommen worden, obwohl der Film für säkulare Zuschauer auch eine Herausforderung ist. Es geht um eine ultraorthodoxe Frau, die in Israel in der Hightech-Branche arbeitet und von dubiosen Russinnen mit Familiengeheimnissen erpresst wird. Der Film zeigt nur Frauen in Hauptrollen und dauert drei Stunden. Warum so lang?
In der charedischen Gemeinschaft sind Fernsehen und Internet zu Hause nicht erlaubt. Wenn eine Frau ins Kino geht, ist das ein Event. Die Mutter, die Großmutter, die Töchter, die Schwiegertöchter, die Cousinen: Alle werden mitgenommen. Ich habe sieben Kinder, darunter vier Töchter. Wenn ich mit ihnen einen Film im Kino anschaue, sind das fast 500 Schekel. Das ist viel Geld, dafür verlangen die Zuschauerinnen, dass ihnen etwas geboten wird. Deshalb werden viele charedische Filme im Ausland produziert, um dem Publikum die Welt zu zeigen. Ein Film ist wie ein Flugticket. Und die Regisseurinnen sind abhängig vom Publikum. Wenn in einem charedischen Frauenfilm Männer mitspielen oder der Film nur 90 Minuten dauert, dann ist das Publikum wütend, und die Regisseurin bekommt zu hören: »Mach doch Filme für das breite Publikum – wie Yehonatan Indursky mit ›Shtisel‹ oder Rama Burshtein. Aber Filme für Charedim? Nur nach unseren Regeln.«

Wie hat sich der Film für das ultraorthodoxe Publikum entwickelt?
Es fing an mit Produktionen von Männern für Männer – das waren kurze Filme, die als CDs verkauft wurden. Die Männer haben dafür 40 bis 60 Euro gezahlt und sich die Filme zu Hause angeschaut. Aber dann sind die Rabbiner gegen PCs in Privathaushalten eingeschritten, und diese Produktionen haben aufgehört. Seit 2007 ist das ultraorthodoxe Frauenkino im Aufwind, und viermal im Jahr ist Kinozeit: Sukkot, Chanukka, Pessach und in den Sommerferien.

Wann haben Sie zum ersten Mal einen charedischen Film für Frauen gesehen?
Etwa vor 20 Jahren in Jerusalem, das war ein Film von Rechy Elias. Es war für mich ein unglaubliches Erlebnis, allein das Publikum war faszinierend. Damals habe ich beschlossen, Filmkritikerin zu werden. Ich habe auch meine Doktorarbeit an der Hebräischen Universität Jerusalem über charedische Filme geschrieben. Manchmal werde ich gefragt, warum ich nicht politisch aktiv bin. Darauf antworte ich: Ich bin eine charedische Frau, die über Filme schreibt. Allein das ist politisches Engagement.

Zunehmend studieren charedische Frauen an Universitäten in Israel …
… und ich führe das direkt auf den charedischen Frauenfilm zurück. Auf der Leinwand sehen die jungen Frauen Ärztinnen und Rechtsanwältinnen, und sie wollen diesen Vorbildern nacheifern. Der charedische Frauenfilm ist eine Art stiller Feminismus, obwohl er auf den ersten Blick sehr konservativ wirkt. Aber allein die Tatsache, dass es charedisches Kino gibt, ist revolutionär – der Inhalt ist dabei zweitrangig.

Mit der charedischen Filmkritikerin sprach Ayala Goldmann.

Meinung

Nan Goldin: Gebrüll statt Kunst

Nach dem Eklat in der Neuen Nationalgalerie sollte Direktor Klaus Biesenbach zurücktreten

von Ayala Goldmann  25.11.2024

Hochschule

Das Jüdische Studienwerk ELES feiert sein 15. Jubiläum

Als Begabtenförderungswerk will es junge jüdische Studenten auch weiter für das Gespräch stärken - gerade in Zeiten von Krisen und Konflikten

von Stefan Meetschen  25.11.2024

Rezension

Trotzki-Biograf und Essayist

Isaac Deutschers Band »Der nichtjüdische Jude« zeigt Stärken und Schwächen des eigensinnigen Historikers

von Marko Martin  25.11.2024

Sehen!

Fluxus in Köln

Das Museum Ludwig widmet Ursula Burghardt und Ben Patterson eine Doppelausstellung

von Katharina Cichosch  24.11.2024

Amos Oz

Der Fehlbare

Biograf Robert Alter würdigt den Literaten und politischen Aktivisten

von Till Schmidt  24.11.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Schweißausbrüche, Panikattacken und eine Verjüngungskur auf dem Podium

von Margalit Edelstein  24.11.2024

Kulturkolumne »Shkoyach!«

Wenn Fiktion glücklich macht

Shira Haas und Yousef Sweid sind in »Night Therapy« weitaus mehr als ein Revival der Netflix-Erfolgsserie »Unorthodox«

von Laura Cazés  24.11.2024

Aufgegabelt

Boker tow: Frühstück

Rezepte und Leckeres

 24.11.2024

Auszeichnung

Historiker Michael Wolffsohn erhält Jugendliteraturpreis

Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur würdigt Engagement in der Geschichtsvermittlung

 23.11.2024