Krimi-Fans hatten sich schon an ihn gewöhnt: den Zürcher Rabbiner Gabriel Klein, dem – nicht zur Freude seiner Frau Rivka – es nicht genügte, Seelsorger und geistiger Anführer seiner Gemeinde zu sein, sondern der immer wieder in Mordfälle verwickelt wurde und meist erfolgreich versuchte, sie auch aufzuklären.
Nun aber gönnt Autor Alfred Bodenheimer seiner Kunstfigur im neuesten Krimi mit dem Titel Mord in der Straße des 29. November eine Pause, von der im Moment noch nicht klar zu sein scheint, wie lange sie dauern wird.
Rabbiner Klein erhält also vorläufiges »Berufsverbot«, und damit fallen als Schauplätze auch die eher beschaulichen Schweizer Städte Zürich oder Basel außer Betracht. Stattdessen kommt nun die israelische Hauptstadt Jerusalem zum Zug, wo Bodenheimer auch zusammen mit seiner Familie seinen hauptsächlichen Wohnsitz hat.
KNESSETABGEORDNETE In Jerusalem nämlich wird mitten im ersten Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 das Ehepaar Ruchama und Gil Wacholder bei einem späten Abendspaziergang mit ihrem Hund von einem unbekannten Täter erschossen. Die Tat löst Entsetzen, aber auch hektische Behördenaktivität aus – obwohl die Knessetabgeordnete, die auch einmal Ministerin war, nun eher als Hinterbänklerin galt und nicht mehr in der ersten Reihe der Politstars des jüdischen Staates stand.
Aber sie war, obwohl der Rechten zugehörig, kritisch gegenüber Premierminister Benjamin Netanjahu eingestellt, der damals noch an der Macht war und versuchte, das Land einigermaßen heil durch die erste Pandemie-Welle zu lotsen.
Dass Wacholder auch Nachrichten erhielt, welche ihr, der »Verräterin«, mit dem Tod drohten, macht das Ganze ebenso kompliziert wie die Tatsache, dass der Täter kurz nach der Tat »Allahu Akbar« gerufen haben soll und den Verdacht damit gleichzeitig automatisch auf eine islamistische Spur lenkt. Kurz danach werden denn auch zwei Palästinenser aus den Gebieten verhaftet.
AMATEURDETEKTIVIN Selbstverständlich braucht es auch in Mord in der Straße des 29. November statt Rabbiner Klein eine Art Miss Marple, die versucht, den Täter zu ermitteln. Bodenheimers Amateurdetektivin heißt Kinny (von Kinneret) Glass und ist ihres Zeichens Polizeipsychologin in der Hauptstadt. Zu Beginn des Romans muss sie einen »verzweifelten Familienvater« davon abhalten, vom Balkon seiner Wohnung im Jerusalemer Stadtteil Talpiot zu springen, weil die wirtschaftliche Situation während der Pandemie auch diesen Mann in Nöte bringt.
Doch weil Kinnys Ex-Mann und der erschossene Ehemann der Knessetabgeordneten einst ein gemeinsames Architekturbüro betrieben, bevor sich ihre Wege trennten, hat sie auch ein persönliches Interesse an dem Fall.
Gemeinsam mit ihrem bei der Jerusalemer Polizei arbeitenden Freund Nissim ermittelt Kinny schließlich auch aktiv. Dies unter anderem, weil der Inlandsgeheimdienst Schin Bet den Fall nach anfänglich eigenen Ermittlungen wie eine heiße Kartoffel wieder der Polizei zurückgibt.
Die Ingredienzen für eine spannende Geschichte sind also vorhanden, und Bodenheimer würzt sie noch mit zahlreichen Anspielungen auf die israelische Gesellschaft, aber auch auf die politische Situation des Landes.
NETANJAHU Unschwer ist der (inzwischen abgewählte) Premier Netanjahu auszumachen, dem längst auch Leute aus seiner eigenen Partei Korruption vorwerfen, der aber auch weiterhin seine Anhängerschaft hat, zum Beispiel Kinnys Tochter Mia, die mit ihrer Mutter politisch nicht einig ist: »Dem Land geht es so gut wie nie zuvor. Aber wehe, der Premierminister lässt sich mal ein paar Zigarren oder Flaschen Champagner schenken. Dann geht gleich die Welt unter.«
Kinnys Argumente, die Angst hat, dass »dieser Staat irgendwann aus lauter innerer Fäulnis in sich zusammenklappt«, lässt Mia nicht gelten. Alfred Bodenheimers neuestes Werk ist eine Bestandsaufnahme Israels im Jahr 2020 und ein Krimi mit einer (zumindest teilweise) überraschenden Auflösung.
Alfred Bodenheimer: »Mord in der Straße des 29. November. Ein Jerusalem-Krimi«. Kampa, Zürich 2022, 224 S., 18,90 €