Kains Opfer ist ein ebenso banaler wie genialer Titel für einen Kriminalroman. Man kann ihn deuten, wie das zunächst jeder tut, der die Geschichte vom Brudermord in Genesis gelesen hat: Das Opfer Abel ist von Anfang an allseits bekannt. Der Täter Kain auch, er muss weiterleben, die Konsequenzen seiner Tat tragen. Sein Opfer – eine Frucht war schon seinen Eltern zum Verhängnis und Auslöser des Rauswurfs aus dem Paradies geworden – wurde abgelehnt. Kain ein Opfer seiner Hybris?
gerüchte Bei Kains Opfer von Alfred Bodenheimer ist die Sache einfacher und subtiler zugleich. Der erste Roman des Ordinarius für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel beginnt mit dem Mord an Nachum Berger, allseits geschätzter Lehrer für Hebräisch und Religion an der jüdischen Primarschule in Zürich.
Von der für den Fall zuständigen Polizeikommissarin beauftragt, die hebräische E-Mail-Korrespondenz des Ermordeten zu sichten, gerät der Held des Buches, Gemeinderabbiner Gabriel Klein, immer tiefer in den Fall. Mit dem Opfer, einem Mittfünfziger, stimmte etwas nicht, vermuteten manche Gemeindemitglieder schon lange. Oder warum schlug Berger, ein religiöser Jude, jede Heiratschance aus?
Die Idee zu seinem Krimi kam Alfred Bodenheimer, der Jakob Arjouni und Michael Chabon als literarische Vorbilder nennt, an einem Erev Schabbat in Jerusalem. Dort war Bodenheimer 2012/2013 für ein Forschungsprojekt an der Hebräischen Universität. Der 1965 in Basel Geborene hat auch an der Yeshiva University in New York gearbeitet, war Rektor der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, lehrte in Luzern und ist inzwischen als Leiter des Zentrums für Jüdische Studien wieder in seiner Heimatstadt Basel gelandet.
Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter hat einmal gesagt: »Wenn ich ein Pferd wäre, würde ich über Pferde schreiben. Da ich ein Jude bin, schreibe ich über Juden.« Das könnte auch Alfred Bodenheimer so sagen. In Kains Opfer bringt er sein umfassendes Wissen als gläubiger Jude, aktives Gemeindemitglied sowie Israel- und Schweiz-erprobter Forscher ein, der unter anderem wissenschaftliche Aufsätze zu Themen wie »Das Böse in der jüdischen Bibelexegese« und »Bin ich meines Bruders Hüter? Kain und Abel als Modelle einer Dialektik der Brüderlichkeit« publiziert hat.
alltag Geschickt lässt Alfred Bodenheimer Alltagsphänomene aus dem Züricher jüdischen Leben einfließen. Da geht es um die Zulässigkeit der Konversion einer erklärten Atheistin, das Los einer Aguna, einer ohne Scheidung verlassenen Ehefrau, das Neben- (manchmal auch Gegen-)Einander der charedischen und traditionell lebenden Juden, die Indifferenz der Mehrheit, die »zum Ende des Religionsunterrichts« aufgehört haben, »sich mit dem Judentum intensiver zu befassen«, und die sich über eine Religion mokieren, »bei deren Verständnis sie auf dem Stand von Zwölfjährigen stehen geblieben waren«.
Der Literaturwissenschaftler Bodenheimer bringt auch einen Seitenhieb auf eine Schnapsidee unter, die 2013 in Zürich aufkam, nämlich die Gemeindebibliothek zu verschenken, um Geld zu sparen. Im Roman wird dem Rabbiner angetragen, auf seine Sekretärin zu verzichten, »dänn chönnd mer d’Bibliothek bhalte«. Bodenheimer nimmt sich auch die – selbst für Schweizer Verhältnisse exorbitanten – Preise für Koscherfleisch vor, die damit zu tun haben, »dass drei bezahlte Bärte um jedes Schnitzel stehen«. Und nebenher erfährt der Leser nette, kleine Insiderstories, etwa, dass der Stadtteil Enge, wo viele Modern-Orthodoxe leben, in der Gemeinde ironisch »Golanhöhen« genannt wird.
Im Zentrum von Kains Opfer aber steht Rabbiner Gabriel Klein. Ein Geistlicher als Ermittler ist immer ein ergiebiger Ausgangspunkt für einen Krimi, von G. K. Chestertons Father Brown bis zu Harry Kemelmans Rabbi David Small. Der fromme Protagonist, ob katholisch oder jüdisch, kennt mit oder ohne Beichte die menschliche Seele im Allgemeinen und seine Gemeindemitglieder im Besonderen.
dickkopf Rabbi Klein ist, ganz wie im richtigen Leben, im Prinzip nur seinem Glauben und seinem an den jüdischen Geboten und Quellen geschulten Geist verpflichtet. Seine reale Souveränität reicht jedoch nur soweit, wie die Beschlüsse des Gemeindevorstands und die Bedürfnisse der Gemeindemitglieder es zulassen. Dazu braucht es Humor, aber das ist keine von Kleins markanten Eigenschaften.
Er ist ein selbstbezogener Dickkopf, der nachdenkt, wo empathisches Hinsehen wichtiger wäre, und der darum oft falsch entscheidet. Er ist ein guter Ehemann, ein liebender, aber unengagierter Vater, ein bemühter Rabbiner, kurz ein anständiger Mensch. Allerdings auch ein Lügner, der mit einer falschen Antwort die Kommissarin irreführt und damit indirekt einen weiteren Todesfall bewirkt.
Am Ende ist der Fall zwar gelöst, doch für den Rabbiner ist nichts geklärt. Die Gebrochenheit dieser Figur ist das wirklich Spannende dieses in Form und Sprache eher konventionell geratenen Buchs. Man wüsste gerne, wie es mit Rabbiner Gabriel Klein weitergeht. Ein Wunsch, der demnächst erfüllt werden könnte. Der zweite Fall liegt bei Alfred Bodenheimer bereits in der Schublade.
Alfred Bodenheimer: »Kains Opfer«, Nagel & Kimche, Zürich 2014, 224 S., 18,90 €