Naher Osten

Ein entscheidendes Jahr

Oren Kessler geht in seinem neuen Buch »Palestine 1936« der Vorgeschichte des modernen Staates Israel nach

von Alexander Kluy  02.07.2023 00:06 Uhr

Arabische Unruhen gegen die jüdische Einwanderung 1936 bis 1939: Aufständische in einer Straßenschlacht mit britischer Polizei in Jaffa Foto: picture alliance / akg-images

Oren Kessler geht in seinem neuen Buch »Palestine 1936« der Vorgeschichte des modernen Staates Israel nach

von Alexander Kluy  02.07.2023 00:06 Uhr

Margareten ist der fünfte Bezirk Wiens. Die größte Grünanlage hier ist der Bruno-Kreisky-Park, benannt nach dem langjährigen jüdischen Bundeskanzler der Alpenrepublik. An einem Ende der geometrischen Anlage steht eine Kreisky-Büste, am anderen, nahe dem Abgang zur U-Bahn-Station, eine Litfaßsäule, auf der permanent einer der bekanntesten Sprüche Kreiskys zu lesen ist: »Lernen S’ Geschichte, Herr Reporter!« Eine Ermahnung des historisch sehr bewanderten Politikers.

Der Politologe und Autor Oren Kessler wäre von Kreisky wohl nicht so unwirsch gemaßregelt worden. Wahrscheinlich hätte der Kesslers jüngstes Buch Palestine 1936: The Great Revolt and the Roots of the Middle East Conflict verschlungen und gewiss viel daraus lernen können.

DETAIL Kessler, aufgewachsen in Rochester im US-Bundesstaat New York und in Tel Aviv, ausgebildet in Toronto und Herzliya, arbeitet als Journalist für die »Jerusalem Post« und die englische Ausgabe von »Haaretz«, für die »Washington Post« sowie »Foreign Affairs« und ist in Tel Aviv Mitarbeiter eines politischen Thinktanks. In Palestine 1936 zeichnet er kundig und detailliert jene Phase nach, in der das heutige Israel noch das Mandatsgebiet der Besatzungsmacht Großbritannien war.

Auch der Historiker Dan Diner besprach 2021 in seinem Buch Ein anderer Krieg diese Zeit, um dann aber rasch auf den Zweiten Weltkrieg und dessen Auswirkungen für den geografischen Raum zwischen Rafah, Beirut, Aleppo und Bagdad einzugehen.

Auf palästinensischer Seite zeigt sich eine beklemmende Kette politischer Fehler.

Oren Kessler aber taucht tiefer ein. Er nimmt sich Zeit, um diese ins Halbdunkel des Vergessens geratenen Jahre ab 1936 – recht stiefmütterlich vernachlässigt durch die Geschichtsschreibung –, die erste blutige Rebellion mit den Eskalationen Generalstreik und Fast-Bürgerkrieg zu schildern. Er macht dies gründlich, fast 60 Seiten umfasst der Anhang mit Zitaten und Bibliografie. Dabei sind die vielen angeführten und ausgewerteten zeitgenössischen Zeitungsartikel besonders interessant.

terrorgruppe Der erste arabisch-antizionistische Aufstand entzündete sich am Tod eines Anführers einer winzigen arabischen Terrorgruppe und zog bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine immer breitere blutige Spur durch Britisch-Palästina.

Die englische Politik war nicht nur zwiegespalten, sie war uneinheitlich und wurde durch diese und jene Kehrtwende lokal wie regional immer wieder entwertet.

Für das 1948 gegründete Israel und die Israelis waren diese Jahre, der Sturm vor den Stürmen, die noch folgen sollten, deshalb so wichtig, weil sie mit erbarmungsloser Tatkraft von dem britischen Offizier Orde Wingate ins­piriert waren. Dieser war weitläufig mit T. E. Lawrence alias »Lawrence of Arabia« verwandt, weshalb Wingate schließlich »Lawrence of Judea« genannt wurde. Wingate verabscheute das noch mehr als seinen Cousin.

Er veränderte Großbritanniens militärische Taktik zum Proaktiven, gründete die Special Night Squads, zur einen Hälfte Engländer, zur anderen Juden. Die »Nostrim« entstand, eine Proto-Armee jüdischer Freiwilliger, deren illegale Untergruppierung ein gewisser Moshe Dayan befehligte, im Buch auf einem Foto von 1938 zu sehen. Ohne die Aktivitäten der Hagana und der Irgun wäre es nach Kriegsende kaum zur Staatsgründung gekommen.

Auf palästinensischer Seite ist es eine beklemmende, ja schockierende, da nahezu ununterbrochene Kette politischer Fehler, diplomatischer Fehlleistungen und falscher Entscheidungen. Getroffen aus Arroganz oder Ignoranz. Aus Trotz wie aus verletzter Eitelkeit. Aus Hass, befeuert von Fanatismus. Oder manchmal ausgelöst durch unüberlegten Stolz.

eloquenz Bei einem entscheidenden Treffen in London mit hochrangigen britischen Politikern und Entscheidungsträgern, der sogenannten St.-James-Konferenz, traten die Araber hochfahrend, ja abweisend schroff auf, alles andere als aufgeschlossen und geschmeidig. Chaim Weizmann dagegen nahm die Teilnehmer für sich mit vollendetem Charme und mitreißender Eloquenz ein.

Es ist auch die Vorgeschichte politischer Ideen, die bis heute debattiert werden. Zweistaatenlösung, Friedenspläne, Autonomieverlangen, Grenzverläufe, Formen des Regierens: bereits Mitte der 30er-Jahre ersonnen und auch – so der Bau einer Grenzmauer, zu diesem Zeitpunkt noch aus Stacheldraht – bereits praktiziert.

Es ist auch die Vorgeschichte der Auf- und Zersplitterung der Palästinenser, die bis heute ununterbrochen anhält. Schon damals – und Kessler rechnet dies mehrfach penibel vor – waren in den Jahren 1936 bis 1939 zwischen 16 und 25 Prozent der durch arabische Palästinenser Ermordeten selbst arabische Palästinenser. Oppositionelle, die buchstäblich mundtot gemacht wurden. Anhänger eines anderen Lagers oder divergierender Strömungen. Moderate wurden eingeschüchtert, resignierten.

Extremisten wie der antisemitische, antizionistische Mohammed Amin al-Husseini, seit 1921 Mufti von Jerusalem – und später Nazi-Getreuer –, behielten die Oberhand, desavouierten und ruinierten ökonomische wie Identitätsgrundlagen so gründlich wie nachhaltig für Jahrzehnte.

HELD Kesslers geheimer Held ist der kluge, sanfte, gebildete Musa Alami, 1897 in Jerusalem geboren und 1984 in Damaskus gestorben, in Cambridge ausgebildet, Jurist, Staatsanwalt, Privatsekretär von General Wauchope, dem Pomp-affinen Hochkommissar für Palästina von 1931 bis 1938. Alami gründete 1948 eine landwirtschaftliche Schule nahe Jericho, die florierte, in die er viele Kriegswaisen aufnahm, erzog und ausbildete und die 1967 fast zur Gänze zerstört wurde und heute wieder in der Wüste grün erblüht.

Politische Ideen wie die Zweistaatenlösung wurden bereits in den 30er-Jahren ersonnen.

Am Ende macht Kessler in seiner ausführlichen Darstellung darauf aufmerksam, dass die von der Hamas so gern eingesetzte Boden-Boden-Rakete »Qassam« nach Scheich Izz ad-Din al-Qassam benannt ist. Dieser war einer der ersten arabischen Terroristen und Gründer der mörderischen Untergrundorganisation »Al-Kaff Al-Awad« (Die Schwarze Hand).

Ende November 1935 verantwortete er den Mord an dem jüdischen Polizisten Moshe Rosenthal, er wurde verfolgt, gejagt, schließlich erschossen – Funke für den Aufstand 1936. So nah der Gegenwart ist die Geschichte, so tödlich, so Aktuelles einfärbend sind die 30er-Jahre, die Kessler beklemmend eindrucksvoll nachzeichnet.

Oren Kessler: »Palestine 1936. The Great Revolt and the Roots of the Middle East Conflict«. Rowman & Littlefield, Lanham 2023, 320 S., 23,99 €

Frankfurt am Main

Goethe-Universität und Jüdische Akademie kooperieren

Neben gemeinsamen Forschungsprojekten soll es auch eine Zusammenarbeit bei Vorlesungsreihen, Workshops, Seminaren, Konferenzen sowie Publikationen geben

 31.10.2024

Kultur und Unterhaltung

Sehen, Hören, Hingehen

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 31. Oktober bis zum 7. November

 31.10.2024

Frankfurt am Main

Sonderausstellung zu jüdischer Trauerkultur

Die Schau informiert auch über Vorstellungen des Judentums von Unterwelt und Jenseits, besondere Trauerrituale und Formen des Totengedenkens

 30.10.2024

Berlin

Israelsolidarische Kneipe »Bajszel« attackiert

Zum wiederholten Mal gab es einen mutmaßlich antisemitischen Anschlag auf die Neuköllner Kulturkneipe

von Ralf Balke  30.10.2024

Interview

»Gemeinsam forschen«

Enrico Schleiff über die Kooperation mit der Jüdischen Akademie, die Geschichte der Goethe-Universität und Proteste auf dem Campus

von Joshua Schultheis  30.10.2024

50 Jahre Judaistik-Fachverband

»Ein betont multidisziplinäres Fach«

Die Vorsitzende Katrin Kogman-Appel über die Entwicklung jüdischer Studien in Deutschland

von Ralf Balke  29.10.2024

Attentat

Fakt und Fiktion in schlüssiger Symbiose

Christof Weigolds Kriminalroman über den ungeklärten Brandanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in München im Jahr 1970

von Helen Richter  27.10.2024

Netflix-Serie

Balsam für Dating-Geplagte? Serienhit mit verliebtem Rabbiner

»Nobody Wants This« sorgt derzeit für besonderen Gesprächsstoff

von Gregor Tholl  23.10.2024

Herta Müller

»Das Wort ›Märtyrer‹ verachtet das Leben schlechthin«

Die Literaturnobelpreisträgerin wurde mit dem Arik-Brauer-Publizistikpreis des Thinktanks »Mena-Watch« ausgezeichnet. Wir dokumentieren ihre Dankesrede

von Herta Müller  23.10.2024