Wer über kreative Fantasie und Einfühlungsvermögen verfügt, kann sich anhand des »Marbacher Magazins« zu Gertrud Kolmar, einem 1993 erschienenen Ausstellungskatalog des Deutschen Literaturarchivs, Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Dichterin anschaulich vor Augen führen.
Wer sich lieber unterhaltsam von ihrem Leben erzählen lassen möchte, kann dies jetzt anhand von zwei Neuerscheinungen, Ingeborg Gleichaufs Porträt und Friederike Heimanns biografischer Studie, die 80 Jahre nach der Deportation von Gertrud Kolmar nach Auschwitz am 2. März 1943 auf den Markt kommen. Beide Werke bieten jedoch nicht die Ergebnisse eigener biografischer Recherche an. Sie basieren vielmehr auf dem, was Johanna Woltmann für das »Marbacher Magazin« erarbeitet hat, sowie auf Briefeditionen und anderen Publikationen der immer noch recht übersichtlichen Forschung zu Kolmar.
QUELLEN Aufgrund dieser doch recht spärlichen Quellenlage zu Kolmars Leben überrascht es, dass beide Autorinnen aus den Quellen noch einmal eine gründliche Auswahl getroffen haben. Darin deutet sich eine grundlegende Tendenz ihrer biografischen Darstellung an.
Sie gilt als eine der wichtigsten deutschen Lyrikerinnen seit Annette von Droste-Hülshoff.
Die im »Marbacher Magazin« unter der Überschrift »Verwaltungsakten« vorgestellten Dokumente zur persönlichen Entrechtung der Familie Chodziesner (dies ist Kolmars bürgerlicher Name) finden bei beiden Autorinnen keine direkte Erwähnung.
Die Gestapo und ihre Maßnahmen sind nur in allgemeinen Aussagen über die zeitgeschichtliche Situation präsent, nicht durch konkrete, die Familie Gertrud Kolmars betreffende Aktionen. Das ist jedoch nicht unbedingt ein Manko. Vielmehr passt diese Auslassung zu Kolmars eigenem Bedürfnis, sich auf die zu durchlebende Zeit nicht allzu sehr einzulassen.
RESONANZ Klug formuliert Ingeborg Gleichauf, dass Kolmar »eine Meisterin des Verschwindens« gewesen sei, die in diesem Verschwinden als das hervortritt, »was sie wirklich ist: eine Dichterin«. Die Dichterin Gertrud Kolmar steht deshalb zu Recht im Mittelpunkt beider Bücher. Ihre Resonanz beim Lesepublikum hinkt jedoch noch immer ihrer Bedeutung als eine der größten deutschen Lyrikerinnen seit Annette von Droste-Hülshoff hinterher.
Beide Bücher können diesem Defizit auf die eine oder andere Weise abhelfen. Gleichaufs gut lesbare, auch für interessierte Jugendliche geeignete Einführung in Leben und Werk Gertrud Kolmars besticht durch eine klare, plastische Sprache.
Ihre Werkinterpretationen sind dazu gedacht, für die Leser die literarische Sprache vor allem der Gedichte zu öffnen. Deren oft fremd anmutende Bildlichkeit und ihre ins Religiöse weisende Gestik führen aus der Moderne heraus in archaische Urgründe, die sich nur einem Leser öffnen, der bereit ist, seine »Erfahrungshorizonte, Denkhorizonte« zu erweitern.
UMRISS Auf 200 Seiten zeichnet Gleichauf den Umriss eines Lebens, das von seiner privaten Seite das Leben einer unverheirateten, von Liebesenttäuschungen geprägten deutschen Jüdin war, die in ihren letzten Lebensjahren in Berlin ihren alten Vater betreute. Als Lyrikerin jedoch beansprucht sie, ein eigener Erdteil zu sein (im Gedicht »Die Unerschlossene« heißt es: »Ich bin ein Kontinent, der eines Tages stumm im Meere versinkt«), den die Leser erst noch in seinem vollen Reichtum zu entdecken haben.
Den Umriss durch eine sehr persönliche Darstellung auszufüllen, ist der Anspruch von Friederike Heimann. Als Rahmenhandlung ihres in 15 Kapitel aufgeteilten Durchgangs durch Kolmars Leben und Werk dient ihr der 2014 unternommene gemeinsame Spaziergang mit Kolmars Neffen durch Berlin. Doch Heimanns Sprache ist konventionell, entweder auf alltagssprachliche Wendungen oder die Begrifflichkeiten kulturwissenschaftlicher Diskurse fixiert.
Die Gestik ihrer oft bildlichen Gedichte weist ins Religiöse.
Im Diskursdickicht von Andersheit, Weiblichkeit und der Figur der »Jüdin«, auf die hin Kolmar gedeutet wird, bleiben ihre eigenen, eigenwilligen Positionen auf der Strecke. Kolmars Darlegungen zu ihrer »seelischen Homophobie« gegenüber Frauen, die sie aus dem Vergleich mit der Seelenlage deutscher Soldaten des Ersten Weltkriegs entwickelt, werden von beiden Autorinnen nicht ausgearbeitet. Auch Kolmars Vorliebe für D.H. Lawrence und seine befreiende Sicht auf weibliche Sexualität unterschlagen beide.
SELBSTVERSTÄNDNIS Dass sich Kolmar gegen Ende ihres Lebens nur noch als Jüdin verstanden hat, wie Heimann behauptet, widerlegen die Quellen. Sie liest weiterhin deutsche Literatur (Edzard Schaper, Werner Bergengruen) und europäische Autoren. Auch die deutsche Kultur verlor nicht ihre Bedeutung für sie. Heimann versucht, die spärliche Quellenlage zu Kolmars Leben aufzufüllen, indem sie Zeitgenossen wie zum Beispiel Kolmars Vetter Walter Benjamin ausführlicher referiert. Für Kolmars Einstellung zu Ereignissen der Zeit muss sie jedoch auf Sätze zurückgreifen, die mit »vielleicht«, »scheint« oder »wird wohl« einen Gleichklang der Positionen bloß suggerieren.
Störend wirken zudem die wiederholten sentimentalen Einfälle der Autorin, die mit der in klaren und objektiven Sätzen formulierten Weltsicht Gertrud Kolmars nicht zusammenpassen wollen. Gleichauf nimmt dagegen in ihrem Porträt einen sich fein zurückhaltenden Standpunkt ein, wodurch die Gestalt Gertrud Kolmars ihre Würde behält.
Ingeborg Gleichauf: »Alles ist seltsam in der Welt. Gertrud Kolmar. Ein Porträt«. AvivA, Berlin 2023, 205 S., 22 €
Friederike Heimann: »In der Feuerkette der Epoche. Über Gertrud Kolmar«. Jüdischer Verlag/Suhrkamp, Berlin 2023, 462 S., 28 €