Literatur

Ein Breslauer in Bolivien

Werner Guttentag Foto: verlag edition av

Literatur

Ein Breslauer in Bolivien

Das Leben des Verlegers Werner Guttentag

von Gert Eisenbürger  13.02.2013 10:17 Uhr

Dass Migranten das kulturelle Leben ihres Ziellandes bereichern, ist längst ein Allgemeinplatz. Die Geschichte Werner Guttentags (1920–2008) ist dennoch außergewöhnlich. Wie aus einem Breslauer jüdischen Jugendlichen der wichtigste Verleger Boliviens wurde, erzählt Stefan Gurtner in seiner Biografie.

Schon als Zwölfjähriger schloss Werner Guttentag sich der sozialistischen »Freien Deutsch-Jüdischen Jugend« an, die unmittelbar nach der Machtübernahme der Nazis begann, Widerstand gegen das Regime zu leisten. Viele der Jugendlichen wurden verhaftet, andere konnten in die nahe gelegene Tschechoslowakei fliehen. Auch Werner Guttentag verließ 1938 Breslau und kam über Luxemburg in die Niederlande. Er fand Aufnahme im Werkdorf Wieringermeer, wo jüdische Jugendliche auf die Alija vorbereitet wurden. Weil er nicht gegen die arabische Bevölkerung kämpfen wollte, nahm er kurz vor Kriegsbeginn die Möglichkeit einer Ausreise nach Bolivien wahr. Anfang 1940 traf er dort ein und ließ sich in Cochabamba nieder. Hier eröffnete er 1945 eine Buchhandlung, was angesichts des Umstands, dass rund 90 Prozent der Bevölkerung nicht lesen konnten, mehr als ein Wagnis war. Doch Guttentag behauptete sich, konnte später sogar Filialen in anderen bolivianischen Städten eröffnen.

Die Bücher bezog er zunächst vor allem aus Argentinien. In Bolivien gab es keine Verlage. Einzelne Autoren publizierten ihre Texte in Eigenregie. 1950 bat der Schriftsteller Jesús Lara – der heute als wichtigster bolivianischer Autor des 20. Jahrhunderts gilt – Guttentag, seinen Roman Surimi zu veröffentlichen. Das war die Geburtsstunde des Verlags »Los Amigos del Libro« (Die Freunde des Buches), der in den folgenden fünf Jahrzehnten rund 1200 Titel veröffentlichte, neben Romanen und Erzählungen fast aller bedeutenden bolivianischer Autoren zahlreiche landeskundliche Sachbücher. Viele von Guttentags Autoren gehörten nicht nur zur intellektuellen Elite Boliviens, sondern waren auch wichtige Köpfe der Linken. Als es ab 1964 in der Andenrepublik zu einer fast 18-jährigen Abfolge von Militärdiktaturen kam, gerieten viele von ihnen unter Druck, mussten ins Exil gehen, wurden inhaftiert oder gar getötet. Auch Werner Guttentag machte Erfahrungen mit der Repression. 1971 brachte er Jesús Laras Buch Guerillero Inti heraus, das die Geschichte des kurz zuvor getöteten Guerillaführers Inti Peredo erzählt. Der deutschstämmige Diktator Hugo Banzer reagierte mit Gewalt: Paramilitärs drangen in Druckerei und Buchhandlung ein, beschlagnahmten fast 3000 Exemplare des Buches und verbrannten sie. Werner Guttentag wurde kurzzeitig inhaftiert, weil die Diktatur aus den Honoraren, die er als Verleger Jesús Lara gezahlt hatte, eine Finanzierung der Guerilla konstruieren wollte.

Es ist das Verdienst von Autor Stefan Gurtner und der kleinen Edition AV, die faszinierende Biografie und die bemerkenswerte Lebensleistung Werner Guttentags jetzt auch in seinem deutschen Geburtsland zu würdigen – in Bolivien waren ihm noch zu Lebzeiten zahlreiche Ehrungen zuteil geworden. Darüber hinaus ist Guttentag eine spannende Darstellung zentraler Perioden der deutschen wie der bolivianischen Geschichte.

Stefan Gurtner: »Guttentag. Das Leben des jüdischen Verlegers Werner Guttentag zwischen Deutschland und Bolivien«. Edition AV, Lich 2012, 542 S., 24,50 €

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025

Interview

»Die ganze Bandbreite«

Programmdirektorin Lea Wohl von Haselberg über das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg und israelisches Kino nach dem 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  16.04.2025