Ich will offen sein: Ich war mir in den vergangenen Wochen nicht sicher, ob ich heute hier bei Ihnen sein würde.
Dabei ist es seit der ersten documenta, seit dem Jahr 1955, guter Brauch, dass der Bundespräsident am Eröffnungstag in Kassel zugegen ist. Denn die documenta ist nicht nur die bedeutendste Ausstellungsreihe zeitgenössischer Kunst: Alle fünf Jahre wirkt sie gleichsam in die Gesellschaft hinein, indem sie den Zustand der Gesellschaft selbst zum Thema macht. Die documenta war nie nur national, die internationale Kunst war immer präsent. Und in diesem Jahr verantwortet erstmals ein Kuratorenkollektiv aus dem globalen Süden dieses Weltkunstereignis – damit holt die documenta fifteen auch die Debatte über die globale Gegenwart hierher nach Kassel.
Dazu passt, dass ich gerade aus Indonesien komme: Ein Land, das in den vergangenen Jahrzehnten einen wirklich tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Wandel vollzogen hat. Ein Land, das sich nach einer langen Geschichte von Fremdherrschaft und Kolonialisierung die eigene Identität und Unabhängigkeit erkämpft hat. Die größte muslimisch geprägte Demokratie der Welt.
Aber es ist eben auch ein Land, das heute die Folgen des Klimawandels, die Folgen der Umweltverschmutzung, und ja, auch die Folgen des westlichen Lebensstils ganz unmittelbar zu spüren bekommt. Ich habe in Indonesien gesehen, wie – und unter welchen Bedingungen – Menschen auf scheinbar endlosen Müllhalden leben. Ich habe gesehen, wie Plastikmüll von einer Deponie in einem Kunstprojekt unter Mitwirkung der lokalen Bevölkerung zu Ziegelsteinen verarbeitet wird. Aus diesen Steinen soll für die Anwohnerinnen und Anwohner der Mülldeponie ein Haus gebaut werden – als Ort für die Kunst, aber auch als Ort für eine Stiftung, von der die Menschen finanziell profitieren.
Aus Müll entsteht Kunst. Aus Abfall wird Zukunft. Und dennoch ist es immer noch Müll, zum großen Teil westlicher Müll. Es hat mich beschämt, das zu sehen – und mich gleichzeitig beeindruckt.
Umso mehr freue ich mich, dass bei der documenta fifteen ein indonesisches Kuratorenkollektiv ausgewählt worden ist. Einen ersten Blick auf die Exponate konnte ich gerade schon werfen, und ich bin sicher, dass ich bei meinem Rundgang gleich im Anschluss noch mehr Überraschendes, Spannendes, vielleicht auch Verstörendes oder Anstößiges zu sehen bekomme.
Warum also mein Zögern, heute hierhin zu kommen?
Selten hat eine documenta im Vorfeld eine so heftige, so kritische Debatte hervorgerufen wie diese. Eine Debatte, in der wenig über Kunst, aber sehr viel über politische Botschaften gestritten wurde. Und ich gebe zu: Die Schärfe der Kontroverse, die Unversöhnlichkeit im Ton, hat mich irritiert.
Wir alle wissen: Kunst ist nicht streitfrei zu haben. Eine demokratische Gesellschaft darf Künstler nicht bevormunden, erst recht nicht instrumentalisieren. Kunst hat keinen politischen Auftrag. Und Politik richtet nicht über die Qualität von Kunst.
Kunst kann dagegen eine Gesellschaft mit sich selbst ins Gespräch bringen – ein Gespräch übrigens, das wir alle miteinander bitter nötig haben: Ein nach Aufklärung strebendes Gespräch, das in der Empörungslogik sozialer Medien und unter dem täglichen Bekenntnisdrang vieler Nutzer weniger gefördert als vielmehr unterdrückt wird.
Streitfrei ist Kunst also nicht zu haben, aber: Ist deshalb alles Kunst? Joseph Beuys würde jetzt sagen: »Ja!«
Aber das kann nicht bedeuten, dass all jene, die sich für ihre politischen Botschaften der Kunst bedienen, außerhalb der Kritik bleiben. Zumal dann nicht, wenn sie den politischen Aktivismus zur Kunstform machen. Wer als Künstlerin oder Künstler in das Forum der Politik eintritt, muss sich nicht nur der ästhetischen, sondern auch der politischen Debatte und Kritik stellen. Und dort gibt es Grenzen!
Um das klarzustellen, spreche ich heute hier.
Ich habe die Diskussion im Vorfeld der jetzigen documenta sehr genau verfolgt, über das was wir an Kunst zu erwarten haben, aber auch über manchen gedankenlosen, leichtfertigen Umgang mit dem Staat Israel. Denn so nachvollziehbar manche Kritik an der israelischen Politik, etwa dem Siedlungsbau, ist: Die Anerkennung der israelischen Staatlichkeit ist die Anerkennung der Würde und Sicherheit der modernen jüdischen Gemeinschaft. Die Anerkennung ihrer Existenzgewissheit. Als deutscher Bundespräsident halte ich für mein Land fest: Die Anerkennung Israels ist bei uns Grundlage und Voraussetzung der Debatte!
Ich sage gern nochmal: Kunst darf anstößig sein, sie soll Debatten auslösen. Mehr noch: Die Freiheit der Meinung und die Freiheit der Kunst sind Wesenskern unserer Verfassung. Kritik an israelischer Politik ist erlaubt. Doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.
Es fällt auf, wenn auf dieser bedeutenden Ausstellung zeitgenössischer Kunst wohl keine jüdischen Künstlerinnen oder Künstler aus Israel vertreten sind. Und es verstört mich, wenn weltweit neuerdings häufiger Vertreter des globalen Südens sich weigern, an Veranstaltungen, an Konferenzen oder Festivals teilzunehmen, an denen jüdische Israelis teilnehmen.
Ein Boykott Israels kommt einer Existenzverweigerung gleich. Wenn unabhängige Köpfe aus Israel unter ein Kontaktverbot gestellt werden; wenn sie verbannt werden aus der Begegnung und dem Diskurs einer kulturellen Weltgemeinschaft, die sich ansonsten Offenheit und Vorurteilsfreiheit zugutehält; dann ist das mehr als bloße Ignoranz. Wo das systematisch geschieht, ist es eine Strategie der Ausgrenzung und Stigmatisierung, die dann auch von Judenfeindschaft nicht zu trennen ist.
Trotz alledem müssen wir stärker hinschauen, auch hinhören, bei den Fragen, die im globalen Süden die Menschen bewegen: Die lange Kolonialgeschichte mit Gewaltherrschaft und Ausbeutung und die zahllosen blinden Flecken ihrer Aufarbeitung. Die Erfahrung von Unterdrückung und Entrechtung. Der Umgang mit geraubtem Kulturgut. Aber auch die heute schon spürbaren, dramatischen Folgen des Klimawandels mit Extremwetter, Dürren, Nahrungsmittelknappheit und Hunger.
Sich mit den berechtigten Interessen des globalen Südens auseinanderzusetzen, erfordert vieles: historisches Wissen, politische Vernunft, Sensibilität, Ernsthaftigkeit, Neugier und gegenseitigen Respekt. Es erfordert, in einem Wort: den Diskurs.
Ich hätte mir gewünscht, dass vor der Eröffnung dieser documenta über all das diskutiert worden wäre. Und ich bedauere, dass es nicht möglich war, eine direkte Diskussion zwischen den Vertretern des globalen Südens, der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und Israel zu organisieren. Eine Diskussion, die vielleicht auch die Leerstellen des postkolonialen Diskurses bei uns beleuchtet hätte. Wir diskutieren die drängenden Fragen der Gegenwart – und der Vergangenheit – eben nicht exterrestrisch. Sondern in der realen Welt, mit ihrer Geschichte von Konflikten, Kriegen und Gewalterfahrungen. Mit all den Ablagerungen, die sie in der Wahrnehmung von Menschen und Völkern hinterlassen haben.
Eine globale Erinnerung ist erst im Werden. Und überzeugend kann sie nur entstehen, wenn sie alle Erinnerungen berücksichtigt. Eben auch jüdische und israelische Erinnerungen.
Das gilt erst recht für einen Ausstellungsort in Deutschland. Niemand, der in Deutschland als Debattenteilnehmer ernst genommen werden will, kann zu Israel sprechen, aber zu sechs Millionen ermordeten Juden schweigen. Die Wunde der Shoah bleibt offen; wir wollen, dass sie sichtbar bleibt. Das Leid, das Deutsche Juden zugefügt haben; die Lehren, die die Nachfahren der Täter gezogen haben; das Wunder der Versöhnung zwischen Deutschland und Israel; all das sind Erfahrungen, die wir Deutsche in eine globale Erinnerung nicht nur einbringen, sondern ich finde, auch einbringen müssen.
Daher wende ich mich heute auch an die Geschäftsführung und an die Gesellschafter der documenta. Es gehört zum Prinzip dieser Weltkunstschau, dass jede Ausstellung unabhängig kuratiert wird. Das weiß ich. Und die enorme Bedeutung der documenta als das Forum der globalen Kunstgemeinde hat ganz sicher auch mit der großen künstlerischen Freiheit zu tun, die jede Kuratorin, jeder Kurator – oder wie in diesem Jahr das kuratierende Kollektiv – genießen. Aber: Die Verantwortung bleibt ja. Verantwortung lässt sich nicht outsourcen.
Deswegen würde ich es sehr begrüßen, wenn die Verantwortlichen der documenta sich dieser anspruchsvollen Vermittleraufgabe intensiv annehmen würden – und hierfür auch geeignete Strukturen schaffen. Ich bin ganz sicher: Es wird nicht an Unterstützung mangeln. Auch die Staatsministerin für Kultur hat ihre Hilfe dazu angeboten.
Viel zu viele Menschen machen es sich bei komplizierten Zusammenhängen inzwischen sehr einfach. Es gibt nur noch Schwarz oder Weiß, nur noch »Dafür«
oder »Dagegen«
, keine Differenzierung, auch kein gegenseitiges Verstehenwollen. Boykottieren statt diskutieren. Aber hilft dieser neue Rigorismus wirklich weiter?
Der Video- und Installationskünstler Leon Kahane hat darauf, wie ich finde, in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung eine gute Antwort gegeben. Kahane schrieb: »Es gibt Widersprüche zwischen den Argumenten und Schlüssen, die sich aus der Aufarbeitung des Kolonialismus und der Shoah ergeben. Diese Widersprüche lassen sich nicht auflösen. Sie lassen sich nur aushalten, besprechen und anerkennen.«
Und trotzdem, schreibt Kahane, gebe es Grenzen: »Antisemitismus und Rassismus sind solche Grenzen.«
Die documenta ist nicht nur der wichtigste, sondern auch der beste Ort für die Aushandlungsprozesse der zeitgenössischen Kunst. Ich will diesen Ort stärken. Und ich will die documenta stärken. Wir brauchen Sie! Dringender noch als die aktuelle Debatte es nahelegt! Sie hat sich in Jahrzehnten das Vertrauen verschafft, der Zukunftsort einer wirklichen Weltgemeinschaft der Kunst zu sein – ohne Boykott und ohne Vorverurteilung. Ein Ort der offenen Begegnung im Bewusstsein einer ungeteilten Menschlichkeit.