»Viele haben gesagt, du seist naiv.« Mit brüchiger Stimme verabschiedet der Sohn seinen ermordeten Vater. Dov Chernobroda verlor mit 14 weiteren Menschen 2002 sein Leben, als ein Selbstmordattentäter das Restaurant Matza in Haifa attackierte. Der 67-jährige Architekt war Vorstandsmitglied eines arabisch-jüdischen Zentrums. »Ein friedliches Miteinander hat dir sehr viel bedeutet«, fährt der Sohn in der Grabrede fort. »Und nur der unerschütterliche Glaube an diese Werte kann uns eines Tages zurück zur Vernunft führen.«
Das Motiv der Versöhnung schwebt über dem Film Nach der Stille, der diese Woche in die Programmkinos kommt. Die Dokumentation will laut Untertitel eine Antwort auf Das Herz von Jenin sein, jenem gefeierten, nicht unumstrittenen Film aus dem Jahr 2008: Nachdem ein Palästinenserjunge von israelischen Soldaten tödlich verwundet wird, retten seine Organe fünf Kindern das Leben, darunter auch israelischen. Aus dem Film hervorgegangen ist das Projekt Cinema Jenin, das mit einem Kino ein Stück Normalität in die Stadt holen will.
Chiffre Jenin ist zu einer Chiffre im Nahostkonflikt geworden. Die Stadt im Westjordanland war eine Terroristenhochburg. Der Einmarsch der israelischen Armee 2002 ins dortige Flüchtlingslager, wo sich bewaffnete Kämpfer verschanzt hatten, wurde von palästinensischer Seite zum Massaker stilisiert. Traurige Schlagzeilen machte Jenin erneut vor einigen Monaten, als Juliano Mer-Chamis, der jüdisch-arabische Leiter des seit 2006 existierenden Freedom Theatre, von einem mutmaßlichen Hamas-Anhänger erschossen wurde.
Nach Jenin führt auch Nach der Stille. Hier war der Mörder von Dov Chernobroda, der damals 24-jährige Shadi Tobassi, zu Hause. Die jungen deutschen Regisseurinnen Stephanie Bürger und Jule Ott besuchen die Familie des Attentäters, um Erklärungen für seine Tat zu finden. Leider geben sie dieses Unterfangen rasch auf. Stattdessen schlingert der Film von Szene zu Szene dem unausweichlichen Höhepunkt zu: Yael Chernobroda, die Witwe des Ermordeten, reicht der Mutter des Mörders die Hand. Wie im Kino.
Unklarheit Dieser persönliche Versöhnungsakt sei nicht das Ziel ihrer Dokumentation gewesen, sagen die Regisseurinnen. Es habe sich so gefügt. Was sie stattdessen im Fokus hatten, bleibt jedoch unklar. Der Film beginnt mit Fragen über Shadi Tobassi: Woher kam er, wie wurde er zum Selbstmordattentäter, was wusste sein Umfeld? Beantwortet werden diese Fragen bis zum Schluss nicht. Der Zuschauer erhält nur spärliche Informationen über den »guten Sohn«, als den ihn der Vater bezeichnet. Die Familie habe nichts gewusst, Shadi sei am Morgen zu einer neuen Arbeit aufgebrochen, erst aus dem Fernsehen habe man von der Tat erfahren. Die Trauer um den Sohn, dessen Porträt prominent im Wohnzimmer hängt, ist sichtlich groß. Kritisches Nachdenken über den Anschlag lässt die Familie vermissen. Vater und Brüder berichten stattdessen vom schwierigen Alltag in Jenin, an dem letztlich Israel schuld sei. Überhaupt hätten »die Juden« mehr Menschen umgebracht als die palästinensischen Gruppen. Aber Frieden wäre natürlich schon gut. Zwischendurch erzählt Yael Chernobroda, wie sehr sich auch ihr Mann für Frieden eingesetzt habe und dass sie keinen Hass verspüre.
Daneben kommen willkürlich ausgewählte Menschen zu Wort – etwa ein ehemaliger Kopf der Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden –, ohne dass ihre Beziehung zu dem Attentäter klar wird. Und warum werden Bilder von der gewaltsamen Räumung des Flüchtlingscamps 2002 gezeigt, wo doch der Mordanschlag von Haifa vor dem Einmarsch der Israelis geschah? So stellt der Film fahrlässig einen falschen Kausalzusammenhang mit dem angeblichen Massaker her.
Sie wollten nichts erklären, nur dokumentieren, sagen Stephanie Bürger und Jule Ott. Statt Antworten zu geben, wolle man Fragen aufwerfen. Aber wahlloses Draufhalten der Kamera macht noch keine Dokumentation. Und die wesentliche Frage, die Nach der Stille stellt, lautet: Wozu dieser Film?