Redezeit

»Ein Autor muss seinem Instinkt folgen«

Der israelische Schriftsteller Etgar Keret über sein neues Buch, Israel und ein Kleinsthaus in Warschau

von Philipp Peyman Engel  10.09.2012 08:33 Uhr

Etgar Keret Foto: Yanai Yechiel

Der israelische Schriftsteller Etgar Keret über sein neues Buch, Israel und ein Kleinsthaus in Warschau

von Philipp Peyman Engel  10.09.2012 08:33 Uhr

Herr Keret, Sie stellen diese Woche beim Internationalen Literaturfestival in Berlin Ihr neues Buch »Plötzlich klopft es an der Tür« vor. Was hat es mit dem Titel auf sich?
Der Titel bezieht sich auf die erste Geschichte meines Buches. Sie handelt von einem Schriftsteller, der von mehreren eigentlich ganz normalen Israelis überfallen wird. Sie zwingen ihn, eine Geschichte zu erzählen und so von ihren Sorgen abzulenken. Es geht also um den ganz normalen Eskapismus in Israel. Mehr wird nicht verraten.

Wie würden Sie Ihr Buch jemandem beschreiben, der es noch nicht gelesen hat?
Es hat nach meinem Empfinden etwas von Tausendundeiner Nacht – nur eben israelisch gewendet. Ein Israeli erzählt, fabuliert und macht sich Gedanken darüber, wie die Dinge im Nahen Osten sind. Zudem erzählen meine Geschichten genau davon, was man niemals auf CNN über Israel sehen würde. Stress, Gewalt und die von Druck beherrschte Situation an diesem schönen, aber furchtbar verrückten Ort sind zentrale Elemente.

»Ich möchte den Leuten mit meinen Geschichten eine Ohrfeige verpassen, damit sie aufwachen und ins Grübeln kommen«, sagten Sie einmal. Gilt das auch für Geschichten in Ihrem neuen Buch?
Zwangsläufig, ja. Wenn man wie ich in Israel lebt, ist man automatisch ein polischer Autor und konfrontiert seine Leser mit ebendieser Realität. Generell wird man schnell politisch, wenn man über menschliche Gefühle schreibt. Politik besteht aus menschlichen Emotionen: Hass, Furcht, Hoffnung und Sehnsucht sind die Bestandteile, aus denen sie gemacht ist. Das gilt umso mehr für einen Staat wie Israel. Hier wird alles, was man schreibt, im eigenen Land und mehr noch im Ausland, als politisches Statement verstanden.

In den vergangenen Monaten mehren sich die Hinweise auf einen Krieg zwischen Israel und Iran. Wie ist angesichts dieser Einschätzung die Stimmung im Land?
In Israel lebt man immer mit mehr oder weniger abstrakten schwarzen Wolken. Aber es stimmt schon: Seit Längerem ist es noch heftiger als sonst. Wir haben zwei große Probleme: das antiisraelische und antisemitische Regime in Teheran. Und unsere eigene Regierung stellt für viele Israelis ebenfalls ein Problem dar, weil viele ihr – mit guten Gründen übrigens – nicht über den Weg trauen. Das macht alles sehr kompliziert, für mich als Autor erst recht.

Wie politisch darf ein Schriftsteller sein?
Wenn ein Autor vor seiner weißen Seite Papier sitzt, muss er seinem Instinkt folgen. Er sollte nicht darüber nachdenken, wie sein Text ankommen könnte. Die Kraft der Fiktion rührt daher, dass die Fiktion eigentlich keine Funktion besitzt, sie will nichts, sie ist pur. Das heißt nicht, dass Romane keinen Effekt auf die Politik ausüben können. Es ist paradox: Gerade dadurch bewegt sie etwas: Weil sie nichts intendiert. Um die öffentliche Meinung manipulieren zu wollen, sollte man trotzdem lieber Essays schreiben als Romane.

Was sind Ihre nächsten Pläne?
Nach meinem Aufenthalt in Deutschland werde ich weiter nach Warschau reisen. Dort werde ich einige Zeit in Polens schmalstem Haus wohnen und arbeiten. Der polnische Architekt Jakub Szczêsny hat es extra für mich gebaut. Es ist 152 Zentimeter breit, die Wand zur Hofseite umfasst 92 Zentimeter. Dennoch gibt es auf den beiden Stockwerken ein Schlafzimmer, eine Küchenzeile, ein Büro – und ein kleines Badezimmer.

Wie kam Szczêsny auf den Gedanken, Ihnen ein Kleinsthaus zu bauen?
Die Idee klang auch für mich zuerst nach einem schlechten Witz. Dann traf ich Szczêsny, und er erklärte mir sehr überzeugend sein Konzept. Meine Geschichten sind formal gesehen minimalistisch – wie eben jenes Haus. Zudem steht es mitten im Warschauer Ghetto, wo meine Mutter als Kind eingesperrt war. Das Haus ist also auch ein Denkmal für sie und für alle in meiner Familie, die das Ghetto nicht überlebten. Rund 70 Jahre nach der Schoa komme ich an diesen Platz und werde dort ein Buch schreiben. So schließt sich in gewisser Weise der Kreis.

Das Gespräch führte Philipp Peyman Engel.

Etgar Keret wurde 1967 in Tel Aviv geboren und ist der bedeutendste Schriftsteller Israels seiner Generation. Er verfasst Kurzgeschichten, Graphic Novels und Drehbücher. Sein erster Film »Jellyfish« wurde 2007 auf den Filmfestspielen in Cannes als bestes Debüt ausgezeichnet. Keret lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Tel Aviv.

Sein aktuelles Buch »Plötzlich klopf es an der Tür« ist im Verlag S. Fischer erschienen. Keret stellt es im Rahmen des Literaturfestivals Berlin am Donnerstag, den 13. September, vor. Am Samstag, 15. September zeigt er im Haus der Berliner Festspiele seinen Film »Jellyfish«.

Interview

»Wir stehen hinter jedem Film, aber nicht hinter jeder Aussage«

Das jüdische Filmfestival »Yesh!« in Zürich begeht diese Woche seine 10. Ausgabe, aber den Organisatoren ist kaum zum Feiern zumute. Ein Gespräch mit Festivaldirektor Michel Rappaport über den 7. Oktober und Filme, die man zeigen soll

von Nicole Dreyfus  07.11.2024

Kino

Die musikalische Vielfalt vor der Schoa

Ein Musikfilm der anderen Art startet zu einem symbolträchtigen Datum

von Eva Krafczyk  07.11.2024

Kultur

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 7. November bis zum 17. November

 07.11.2024

Schoa

»Warum hat er uns das nie erzählt?«

Was geschieht, wenn eine jüdische Familie ein lange verschlossenes Kapitel der Vergangenheit öffnet

von Mascha Malburg  07.11.2024

Kolumne

Mit Skibrille zur Vernissage

Warum sich das örtliche Kunstmuseum einer mittelgroßen Stadt in Deutschland kaum von der documenta unterscheidet

von Eugen El  07.11.2024

Kultur und Unterhaltung

Sehen, Hören, Hingehen

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 31. Oktober bis zum 7. November

 07.11.2024

Literatur

»Schwarze Listen sind barbarisch«

Der Schriftsteller Etgar Keret über Boykottaufrufe von Autoren gegen israelische Verlage, den Gaza-Krieg und einseitige Empathie

von Ayala Goldmann  07.11.2024

Sehen!

»I Dance, But My Heart Is Crying«

Die Plattenlabels Semer und Lukraphon veröffentlichten noch bis 1938 Musik von jüdischen Künstlern – davon erzählt ein neuer Kinofilm

von Daniel Urban  07.11.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Sukka-Fishing oder Sechs Stunden täglich auf dem Hometrainer

von Margalit Edelstein  06.11.2024