München

Ein anderes Schweigen

Tourte im Alter von 18 Jahren mit einer jüdisch-arabischen Theatergruppe durch Europa: Sapir Heller Foto: Christian Rudnik

Der Kopf sei, wie er ist, und arbeite, wie er arbeitet, sagt Sapir Heller. Man nenne das »Denken«, obwohl dafür überhaupt keine Zeit bleibt: Assoziationsketten rasseln gnadenlos durchs Hirn, gespeist von Vorurteilen, aber auch von »Sprüchen, mit denen man sich nach außen hin gerne verkauft, die irgendwie den Vorstellungen entsprechen, auch die eigene Identität betreffend, und die eigentlich zu hinterfragen wären«. Und plötzlich könne man anfangen zu zweifeln, was überhaupt noch wahr sei an den Geschichten, die man so hört.

Sapir Heller, 1989 in Israel geboren, seit 2014 – nach einem Studium der Schauspiel- und Musiktheaterregie an der Münchner Hochschule für Musik und Theater – erfolgreiche Regisseurin an großen wie kleineren deutschen Bühnen, weiß, wovon sie spricht. Weil es eben kein Hirn gibt, in dem es nicht ständig rauf- und runterrasselt. Was also ist zu tun? »Zu wissen, zu registrieren, was da die ganze Zeit passiert, das kann man bereits als eine Leistung bezeichnen«, sagt sie.

Diese »Entdeckung« vorsätzlich zu einer Demonstration werden zu lassen, das könnte der Anfang des Theaterstücks Amsterdam gewesen sein, mit dem Maya Arad Yasur, ebenfalls Israelin, im vergangenen Jahr den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens gewonnen hat. »Das Münchner Volkstheater wollte Amsterdam gerne aufführen, worauf Maya den Wunsch geäußert hat, dass der Regisseur oder die Regisseurin irgendeinen Bezug zum Thema haben sollte – da hat das Volkstheater dann bei mir angefragt.«

GASRECHNUNG Sapir Heller liest den Text und hat sofort eine Vorstellung, »wie man das machen könnte«. Zwischen den beiden Frauen gehen E-Mails hin und her. »Maya wollte wissen, was mein erster Eindruck vom Stück gewesen sei, und ich sage ihr, ich lese das irgendwie wie eine Partitur. Daraufhin erwiderte sie: ›Amsterdam, eine textuelle Partitur – ich hatte mir das ursprünglich mal als Untertitel überlegt!‹« Es passte also.

Amsterdam spielt in der Gegenwart. Eine Israelin, die ein Kind erwartet und in Amsterdam als Violinistin in einem Orchester spielt, findet vor ihrer Wohnungstür eine Gasrechnung über 1700 Euro, datiert auf das Jahr 1944.

Aus den vielen Sätzen, die im Text sehr eng geführt werden, sich überlappen, sich widersprechen, könnte sich folgende Geschichte ergeben: In der Wohnung der Geigerin haben in den 40er-Jahren eine Widerstandskämpferin und ihr Mann gelebt. Das Paar versteckt Juden und Jüdinnen, der Mann verliebt sich in eine der Jüdinnen. Die Jüdin wird schwanger, wird entdeckt, kommt ins Lager.

widerstandskämpferin Der Mann verrät seine Frau, lässt sie gegen seine jüdische Geliebte austauschen. Die jüdische Geliebte kommt kurz frei, wird aber später dennoch zusammen mit ihrem Kind ermordet. Nazis ziehen in die Wohnung, zahlen ihre Gasrechnung nicht. Vielleicht hat Jan, der alte Mann, der heute über der Geigerin wohnt, die Gasrechnung vor deren Tür gelegt, vielleicht ist Jan der Mann, der hier einst mit seiner Frau, der Widerstandskämpferin, lebte.

Fragen von nichtjüdischen Deutschen empfindet Heller mitunter als übergriffig.

In der Inszenierung von Sapir Heller hasten zwei Schauspieler und eine Schauspielerin in gymnastiktauglichen Glitzerklamotten durch Text, Raum und Zeit. Sie lassen weder dem Publikum noch sich selbst Atempausen, spielen sich über anderthalb Stunden Rollen und Worte wie scharfe Bälle zu, turnen sich aneinander ab. Amsterdam ist Vorstellung für Vorstellung ausverkauft.

EXPERIMENT Sapir Heller hat sich an den Holztisch in einem sonnendurchfluteten Schwabinger Café eine warme Milch mit Honig bestellt und damit eine entspannte Gegen-Amsterdam-Theaterwelt eröffnet. Und dennoch reichen einige Sätze, einige Szenen bis hierher, wird das Interview zu einem Experiment mit der Ambition, Oberflächen zu durchbrechen, einmal nicht zu fragen, was man schon hundertmal gefragt hat, einmal nicht die Antworten zu erhalten, die man schon hundertmal erhalten hat, einmal nicht in Assoziationsschleifen zu landen.

Einen Versuch ist es wert, auszusteigen aus der imaginären Supermarkt-Kassenschlange inmitten des Amsterdam-Stücks. Jeder dachte da über den jeweils anderen vor oder hinter einem, dass der sicher denkt, dass ich denke, dass er denkt.

Die Israelin Sapir Heller ist schwanger – wie die israelische Geigenspielerin im Stück. In diesem Sommer wird sie zum zweiten Mal Mutter, zu Hause wartet Yaron, ihr Sohn von bald zweieinhalb Jahren. Verheiratet ist sie mit einem deutschen Mann, einem Bayern, und schon rattert es, und schon ist man beim Thema.

fremde »Ganz viel von diesen Gefühlen, die da im Stück angesprochen werden, spüre ich auch. Ich bin eine Israelin, die nicht in Amsterdam, dafür aber in Deutschland lebt. Ich bin eine Fremde, eine Jüdin, und ich beobachte, wie ich wahrgenommen werde, und ich denke, dass andere denken ...« Stopp.

Seit der Geburt ihres Kindes sucht sie verstärkt den Kontakt zur Gemeinde.

Nächste Frage: Was vermisst sie in Deutschland? Die Antworten – »das Meer, die Früchte, die Menschen, die Familie, die Sonne, die Mentalität« – sind »verboten«. »Mir fehlt hier ein gewisser Kampfgeist«, sagt Sapir Heller, »den es in Israel wegen der politischen Situation gibt, und zwar auch schon bei den ganz Jungen, alles hat politische Relevanz.«

Im Gegensatz zu Oberflächlichkeit ist Widerspruch während unseres Experiments erlaubt. »Mit 18 war ich in Israel bei so einer Art jüdisch-arabischer Theatergruppe. Wir sind da auch durch Europa getourt, und da hat bei einem Nachgespräch ein junges Mädchen gesagt: ›Ich bin neidisch auf dich, weil ihr euch schon mit so politischen Problemen beschäftigt, während wir uns damit beschäftigen, ob wir uns diese oder jene Jeans leisten können.‹ Und ich habe gesagt: ›Ich bin neidisch auf dich und deine Probleme mit den Jeans.‹« Das könne sie nicht mehr vergessen, sagt Sapir Heller. Ihre Kinder sollen lieber mit dem »Jeansproblem« aufwachsen, hat sie entschieden. Also Deutschland, München.

Die Oma aus Israel, eine Holocaust-Überlebende, ist zu Yarons Geburt zum ersten Mal nach Deutschland gereist. »Die Oma war so gerührt, einen Urenkel in Deutschland bekommen zu haben.« Mit dem Kind habe sie, Sapir Heller, dann plötzlich angefangen, den Kontakt zur israelischen Community in München zu suchen, damit man gemeinsam seine Identität stärken, damit man zusammen feiern, zusammen Hebräisch sprechen kann. »Und dabei hat es mir früher gereicht, täglich mit meiner Mutter zu telefonieren.« Die Geigerin im Stück beschäftigen mit Kind im Bauch ganz ähnliche Gedanken.

Was Sapir Heller enorm stört, ist, wenn sie für die diversen Nervositäten der Deutschen herhalten muss.

SCHOA Was Sapir Heller enorm stört, ist, wenn sie für die diversen Nervositäten der Deutschen herhalten muss. »Das ist manchmal richtig übergriffig, da wird man manchmal richtig missbraucht; ist man auf einer Party, kennt die Leute noch gar nicht, und die fragen, sobald sie wissen, dass ich Israelin bin, ob ich aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden komme.«

Sapir Heller macht sich darüber Gedanken, wie sie ihren Kindern von der Schoa »erzählen« wird. »In Israel fängt man damit ganz früh an, gibt allem erst einmal so einen Märchencharakter in dem Stil: ›In einem weiten, weiten Land, und das hieß Deutschland, herrschte ein böser, böser Mann, und der hieß Hitler, und da waren noch andere böse Menschen, das waren die Nazis.‹ Aber hier ist dieses Land eben nicht weit, weit weg.«

In der Amsterdam-Aufführung der vergangenen Wochen saßen in den ersten Reihen Leute aus der Münchner jüdischen Gemeinschaft. Den Schauspielern sei das aufgefallen, erzählt Sapir Heller. Sie hätten eine andere »Betroffenheit« gespürt, ein anderes Lachen und ein anderes Schweigen. Nach der Vorstellung wartet das jüdische Grüppchen auf die jüdische Regisseurin. Ein warmer Applaus kommt ihr entgegen.

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