Der Buchtitel ist viel weniger einfach, als er daherkommt. Er legt, denkt man über den Titel ein bisschen länger nach, in seiner Vielschichtigkeit offen, was der Thematik von Shulamit Volkovs neuem Buch immanent ist: Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte lautet er, mit dem zeitlich eingrenzenden Zusatz »vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart«.
Die Autorin ist eine renommierte israelische, inzwischen emeritierte Professorin für Vergleichende Europäische Geschichte, die zwischen den akademischen Welten von München, Berlin, Oxford, New York und vor allem Tel Aviv pendelt. Kein Student, der sich irgendwie intensiver mit jüdisch-deutscher Geistesgeschichte befasst, kommt an ihr vorbei.
GEGENWART Der C. H. Beck Verlag, in dem das Buch erscheint, habe sie, so Volkov bei einer Münchner Podiumsdiskussion mit Max Czollek, wohl ein wenig dazu drängen müssen, bis zur Gegenwart zu gehen. »Vor allem die Kapitel, die sich mit dem nationalsozialistischen Deutschland beschäftigen, wollte ich zuerst nicht angehen«, sagte sie, was uns wieder einen Blick auf den Titel werfen lässt. Was heißt das denn: »aus jüdischer Sicht«? Es könnte heißen, dass sich da einfach eine jüdische Autorin einer Sache annimmt, weil sie sozusagen diese »jüdische Sicht« irgendwie erwartbar mitliefert (so nennt Volkov das an einer Stelle auch »meine eigene jüdische Sicht auf Deutschland«).
Volkov schafft es, sowohl einen Überblick zu liefern als auch einzelne Biografien und Geschichten zu verfolgen.
Aus »jüdischer Sicht« könnte aber auch heißen, und auch das lässt sich immer einmal wieder in Volkovs Buch finden, dass jüdische »Zeitzeugen« zu Wort kommen und ihren Blick aufs deutsche Treiben beschreiben im Allgemeinen, aber auch im Hinblick auf die jüdische Minderheit, zu der sie selbst gehören.
Volkovs Buch zeigt jedenfalls, dass es innerhalb der deutschen geschichtswissenschaftlichen Betrachtungen keine Selbstverständlichkeit ist, die jüdische Geschichte, die ja so eng geht mit der deutschen, gesondert und genau zu betrachten (und eben da macht die Zeit zwischen 1933 und 1945 eine Ausnahme).
Volkov schafft es, sowohl einen Überblick zu liefern als auch einzelne Biografien und Geschichten zu verfolgen. Immer wieder beschreibt sie den reflektierten Blick: »Interessanterweise glaubten Juden oft selbst, singuläre Eigenschaften zu besitzen, jenseits ihrer Religion und über diese hinaus.«
LEHRBUCH Sie holt diejenigen ans Licht, die keine Geschichte schrieben, gibt denen Platz, die innerhalb der Minderheit die Mehrheit ausmachten, bringt gesammelt zwischen zwei Buchdeckel, was sich natürlich schon hier und da in einzelnen Essays oder Abhandlungen hat studieren lassen, aber sich jetzt besser in ein Davor und Danach einordnen lässt.
Shulamit Volkovs neues Werk ist als ein Buch mit leisen Hoffnungen zu lesen.
Deutschland aus jüdischer Sicht ist ein Lehrbuch, das selbstverständlich erst einmal rekapituliert, was sich vielerorts und vor allem auf der politischen Bühne in Deutschland getan hat, um dann im nächsten Schritt zu zeigen, was das mit den Juden in Deutschland zu tun hatte oder für sie bedeutete.
Am Anfang steht die Aufklärung. Volkov durchleuchtet sie entlang der mit dieser Epoche so sehr und häufig assoziierten »Toleranz«, macht deutlich, dass für »die Forderung nach Gleichberechtigung (…) Toleranz allein nicht ausreichte«. Volkov tut das zeitimmanent (im Gegensatz zu Adorno und Horkheimer, die die Aufklärung sozusagen rückblickend und nach den Erfahrungen von NS und Schoa deuteten, bewerteten).
Gestern wie heute gilt: Der sogenannte aufgeklärte Geist zeigt sich in keiner Weise immer als fähig, mit Menschen, die auf diese oder jene Weise anders sind, akzeptabel umzugehen. Dennoch ist Shulamit Volkovs neues Werk als ein Buch mit leisen Hoffnungen zu lesen.
Shulamit Volkov: »Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart«. C.H. Beck, München 2022, 336 S., 28 €