Nach über zwei Jahren Pandemie wirkte der Schaulauf an der Croisette wie eine Beschwörung des Arthouse-Kinos. Es waren vor allem alte Hasen der Filmbranche, die hier ihre neuen Produktionen präsentierten. Darunter David Cronenberg, Valeria Bruni-Tedeschi und Ethan Coen.
Die Filmfestspiele in Cannes wurden vom Ukraine-Krieg überschattet. Im Vorfeld hatten sich die Veranstalter klar positioniert: Weder offizielle russische Delegationen wurden eingeladen noch russische Filme im Wettbewerb zugelassen. Allein der Film des Kreml-Gegners Kirill Serebrennikov Tchaikovsky’s Wife fand Eingang ins Festspielprogramm.
Zur Eröffnungsshow wurde der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eingeblendet. Er verwies in seiner Videobotschaft auf Charlie Chaplin: »Wenn es einen Diktator gibt, wenn es einen Freiheitskrieg gibt, hängt alles wieder von unserem Zusammenhalt ab. (…) Wir brauchen einen neuen Chaplin, der beweist, dass das Kino heutzutage nicht schweigt.«
HORROR Das in der Eile zusammengestrickte Begleitprogramm zum Ukraine-Krieg wirkte allerdings schräg. Im Eröffnungsfilm, der Horrorkomödie Coupez! von Michel Hazanavicius, spritzte das Blut. Mit Mariupolis 2 wurde ein Dokumentarfilm des litauischen Regisseurs Mantas Kvedaravicius spontan ins Programm gehoben. Der Filmemacher war noch während der Dreharbeiten im April von der russischen Armee mutmaßlich gefangen genommen und getötet worden, als er versuchte, die Stadt zu verlassen. Seiner Verlobten Hanna Bilobrowa gelang es jedoch, das Material zu sichern.
In Cannes kam es dann zu einem erschütternden Moment. Als Kampfjets über das Festivalpalais brausten, stand Bilobrowa gerade auf einem Balkon und wollte sich zu Boden werfen. Niemand hatte ihr gesagt, dass die französische Luftwaffe zu Ehren von Tom Cruises Top Gun: Maverick Jets entsandte.
Die Geschichte des weltfremden Jungen Paul Graff ist ergreifend.
In David Cronenbergs dystopischem Body-Horror-Film Crimes of the Future geht es um die makabere Erkundung von Innenwelten, gar um das Entfernen oder Tätowieren von Organen. Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux) sind ein bizarres Künstlerpaar. Die zukünftige Welt, in der sie leben, bringt die Menschen in ihrer Evolution dazu, zu mutieren und neue Organe zu entwickeln. Allein durch ihre Willenskraft können sie sie neu entstehen lassen.
Saul entwickelt so viele dieser funktionslosen Körpererweiterungen, dass er irgendwann beschließt, sie entfernen zu lassen und dies als Kunst zu inszenieren. Caprice steht ihm als Chirurgin bei. Bei einer eigens eingerichteten ›Meldebehörde für neue Organe‹ lässt er seine ›Schöpfungen‹ verzeichnen.
Groteskes Herzstück ihrer Arbeit ist bald eine sargähnliche Autopsie-Suite, aus der ferngesteuerte Skalpelle tentakelartig hervorschießen, die Schnitte vornehmen. »Surgery is the new sex«, heißt es immer wieder. Sexualität finde durch Ritzen und Verletzen, durch das Eindringen von Messern und Skalpellen in den anderen Körper statt. Ein Besucher des Festivals gestand seine Verwirrung: »Es ist eigentlich wie jedes Jahr in Cannes. Cronenberg habe ich mal wieder nicht verstanden.«
Polygamie Valeria Bruni-Tedeschi stellte mit Les Amandiers ein autobiografisches Drama vor, das um 1990 an einer Schauspielschule in Nanterre spielt und stark von Nostalgie geprägt ist. Die Schauspieler-Clique warf sich Ende der 80er-Jahre geradezu rauschhaft ins Leben.
Die angehenden Schauspielerinnen lernen an der berühmten Schule von Patrice Chéreau und Pierre Romans am Théâtre des Amandiers. Bruni-Tedeschi selbst hat dort Unterricht genommen. Ihr Ex-Mann Louis Garrel spielt den neurotischen Chéreau. Micha Lescot schlüpft in die Rolle Pierre Romans’. Voller Enthusiasmus genießen sie ihre Jugend, polygamen Sex, Drogen – und erfahren die erste tragische Liebe.
Die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher präsentierte zum Ende des Festivals ihren neuen Kurzfilm Le Pupille. In dem Disney-Film für Kinder spielt Valeria Bruni-Tedeschi ebenfalls mit. Es ist eine freche, märchenhafte Geschichte, die in einem Waisenhaus spielt. Im Publikumsgespräch erzählte Rohrwacher, wie sie über die Liebe zu Godard zum Film kam und dass sie heute ein fast vollständiges Frauenteam beschäftigt, weil die qualifiziertesten Personen, mit denen sie arbeite, nun mal Frauen seien.
Außerhalb des offiziellen Wettbewerbs lief Trouble in Mind, eine Biografie des Ausnahmemusikers Jerry Lee Lewis von Ethan Coen. Musikalisch zieht einen der Film zwar mit, doch die distanzlose Beweihräucherung des machohaften Musikers, der stolz ist auf ein pädophiles Verhältnis zu seiner zwölfjährigen Cousine sowie zahlreiche Affären hat, ist sehr weit entfernt vom großartigen, ironischen Filmwerk der Coen-Brüder und verärgert.
PROBLEMKIND In der zweiten Woche feierte Armageddon Time von James Gray Weltpremiere – und war zweifellos ein Highlight des diesjährigen Filmfestivals. Anne Hathaway spielt in Grays Drama Esther Graff, die jüdische Mutter eines Zwölfjährigen, der in Queens in den 80er-Jahren aufwächst. Die Geschichte des weltfremden Jungen Paul Graff (Banks Repeta) ist ergreifend.
Seine Familie floh während des Zweiten Weltkriegs in die USA und integrierte sich dort, jüdische Traditionen pflegend, recht erfolgreich. Freilich hat auch die aus der Ukraine stammende Familie Pauls in den USA Antisemitismus erfahren: »Wir haben hier genug Spinowitz’«, wird ihnen gesagt, bevor sie ihren Nachnamen ändern.
Paul ist ein Problemkind. Er tut sich schwer, ist ein Träumer, der in der Schule aneckt (indem er etwa seinen Lehrer Mister Turteltaub als Taube porträtiert) und sich mit einem afroamerikanischen Jungen anfreundet. Bei einem Schulausflug ins Guggenheim Museum ist er fasziniert von Kandinsky. Fortan träumt er davon, Künstler zu werden.
versprechen Sein Großvater Aaron (Anthony Hopkins) bestärkt ihn darin, seinen Träumen zu folgen. Bevor er stirbt, wird er dem Jungen das Versprechen abnehmen, immer ein »Mensch« zu sein. Es ist ein berührender Film, der in Cannes durchaus beeindruckte. Dass der Film keine Auszeichnung erhielt, lässt sich wohl damit erklären, dass hier von jeher italienische und französische Arthouse-Filme favorisiert werden.
Bizarr-schockierende Filme wie Titane von Julia Ducournau (Goldene Palme 2021) blieben, abgesehen von Cronenbergs Crimes of the Future in diesem Jahr aus.
Angesichts der an der Croisette rar gesäten »jüdischen« Filme war der Film von James Gray ein Trostpflaster. Israelische Produktionen gab es in diesem Jahr, trotz eines Pavillons, keine.