Es ist seltsam still geworden um Marcel Reich-Ranicki, um ihn, der wie kaum ein anderer des literarischen Lebens die Medienwelt aufgewirbelt hatte. Noch zu seiner Beerdigung am 18. September 2013 ging das Medienecho weit über das Übliche hinaus.
Die Meldungen, Nachrufe, Statements und Sondersendungen auf allen Kanälen von Funk und Fernsehen überschlugen sich. Kein Bundespräsident oder eine andere Persönlichkeit des öffentlichen Lebens hatte eine derartige Resonanz ausgelöst. Wäre da nicht sein 100. Geburtstag am 2. Juni, Marcel Reich-Ranicki wäre vergessen.
Da nützen all die seit seinem Tod im Jahre 2014 erschienenen Biografien seiner treuen Schüler nicht viel. Auch sie treten allmählich ab, verschwinden aus der medialen Einflusssphäre: Ulrich Greiner, Ulrich Weinzierl, Uwe Wittstock oder Thomas Anz, der noch an einem Briefwechsel Reich-Ranickis arbeitet.
Mit dem Abgang Volker Weidermanns, Reich-Ranickis Lieblingsschüler, änderte das Fernsehen nun endgültig auch das von Reich-Ranicki erfundene Format des Literarischen Quartetts. Obwohl schon zu Lebzeiten heftig auf seinen Nachruhm bedacht: Die Ära Reich-Ranicki ist vorbei. Sein Sohn Andrew, der sich um sein Erbe kümmern wollte, hat den Vater nicht lange genug überlebt. Bevor Andrew 2018 an Leukämie starb, schrieb er mir, das einzig Positive an seiner Krankheit sei, dass seine Eltern sie nicht mehr erleben müssen.
RUHESTÖRER Mir fehlt Reich-Ranicki. Bis zu seinem Tod haben wir beinahe täglich telefoniert. Oft frage ich mich, wie er über die heutige Literatur oder politische Entwicklung sprechen, mit welcher Lust und Freude er Zensuren zu diesem Buch oder jenem Artikel verteilen würde.
Dabei war es gar nicht leicht, an ihn heranzukommen. Kontaktpersonen signalisierten mir, dass ich ihn nun anschreiben dürfe. Am 11. März 1985 schickte ich ihm eine Einladung zu einem Vortrag »Über Ruhestörer in der deutschen Literatur«. Die Absage kam prompt. Im laufenden Jahr 1985 sei es ihm ganz unmöglich zu kommen, und er bat, »die Sache ein wenig zu verschieben«. Im Juli meldete ich mich für das Jahr 1986 an. Bei einem Besuch in München im Oktober wollte er beides in Augenschein nehmen, mich und die Literaturhandlung, die zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre existierte.
Es kam anders, ich traf ihn vorher schon auf der Buchmesse an der Bar im Frankfurter Hof. Es war ihm anzusehen, dass er sich mich ganz anders vorgestellt hatte, als eine, die besser zu meinem eingeschränkten Themenbereich, der Literatur zum Judentum, passte. Er äußerte große Bedenken, die in dem Ausruf gipfelten, dass er sich nicht wieder ins Ghetto sperren lasse. Ich redete und redete, erklärte ihm meine Arbeit. Schließlich überzeugte ich ihn mit seinem eigenen Argument aus seiner Rede »Im magischen Judenkreis« von 1970.
Dort fragte er, ob es ein legitimes Auswahlprinzip gebe, deutschsprachige Autoren zusammenzufassen, »die im Grunde nur eins miteinander gemein haben: die jüdische Herkunft«. In der Beantwortung dieser Frage ist das wunderbare Buch Über Ruhestörer entstanden, das Generationen von Studenten zur Grundlage geworden ist, wollten sie sich mit den Juden in der deutschen Literatur beschäftigen.
»Nichts wäre also irriger als die Annahme, man habe diese Schriftsteller hier noch einmal isolieren und mit einer nunmehr goldenen Ghettomauer umgeben wollen. Ganz im Gegenteil: Nur dann nämlich, wenn man die spezifische Situation und die Eigenart der deutschen Schriftsteller jüdischer Herkunft ausdrücklich betont, nur dann macht man sie verständlich und trägt zu ihrer Wiedereinbürgerung bei.« Genau darum ging es mir.
LIEBLINGE Also, er kam; und immer öfter, um über seine Lieblinge zu sprechen. Er sprach über Franz Kafka und die Frauen, über Döblins Berlin Alexanderplatz, über Heine, über Joseph Roth und viele andere. Beim zweiten jüdischen Kulturkongress »Tarbut« 2003 auf Schloss Elmau hielt er den Eröffnungsvortrag über die Rolle der Juden in der deutschen Literatur. Im selben Jahr stellte ich ihn in einer Ausstellung als Sammler von Schriftstellerporträts vor. Meist handelte es sich um Zeichnungen von Autoren, über die er Bücher oder Aufsätze verfasst hatte: Thomas Mann, Bertolt Brecht, Joseph Roth, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Alfred Döblin, Alfred Kerr, Arnold Zweig und so weiter und so weiter.
1958 kam er mit fünf Dollar in der Tasche in Deutschland an.
Es fiel auf, dass ein großer Teil sowohl der Porträtierten als auch der Zeichner selbst – Eugen Spiro, Hermann Struck oder Emil Orlik – dem Nationalsozialismus entflohen waren. Die Sammlung umfasste ungefähr 100 Bilder, darunter Werke von Max Beckmann, Max Liebermann, Otto Dix und später dann von Horst Janssen und Günter Grass.
Oft saßen wir im Wohnzimmer der Reich-Ranickis in der Frankfurter Gustav-Freytag-Straße, über uns Thomas Mann, Fontane oder Heinrich Böll. Zum Schluss war es da recht kahl geworden, denn Reich-Ranicki hatte die Zeichnungen dem Jüdischen Museum in Frankfurt vermacht.
JAHRHUNDERT Die Veranstaltungen mit Reich-Ranicki waren immer übervoll, egal in welche Räumlichkeit wir auswichen. Den Höhepunkt erreichte 1999 seine Autobiografie Mein Leben. Für ihn ging das letzte Jahrhundert mit einem Triumph zu Ende. Mehr als eine Million Exemplare verkauften sich von Mein Leben. Es wurde auch verfilmt. Hat je ein Kritiker diese Auflagenhöhe erreicht?
Im Herbst 1957 war Marcel Reich-Ranicki in offiziellem Auftrag von Warschau in die Bundesrepublik gereist, um nach neuer deutscher Literatur zu suchen. Für ihn allerdings hatte dieser Besuch einen ganz anderen Zweck: Er erkundete, ob er hier Chancen hätte, ein Leben als Kritiker aufzubauen.
Am 21. Juli 1958 war es so weit. Mit zwei kleinen Koffern und fünf Dollar in der Tasche kam er hier an. Mehr als ein Traum wurde wahr: Er reüssierte und bestimmte ein halbes Jahrhundert das deutsche literarische Leben. Das Literaturarchiv in Marbach meldete anlässlich seines Todes, dass es fast keinen Schriftstellernachlass aus der Zeit nach 1945 gebe, der nicht etwas von Reich-Ranicki enthielte.
Unser Land hat ihm viel zu verdanken. Ihm, der sich mit einer lebenslänglichen Wunde ins Leben zurückkämpfen musste. Wer einmal als lebensunwert erklärt wurde, »kann nicht mehr heimisch werden in der Welt« (Jean Améry).
EXISTENZ Gegen alle Wahrscheinlichkeit gelang es ihm und seiner Frau Tosia, sich zu retten. Seine Eltern und sein Bruder sind umgebracht worden. Aber er baute sich eine neue Existenz in dem Land auf, das ihn, den 18-Jährigen, all dessen beraubt hatte, worauf ein junger Mensch kurz nach dem Abitur bauen kann: auf ein Zuhause, auf ein Studium, auf eine Zukunft.
Als er in Westdeutschland ankam, brachte er mit, was ihm niemand hatte nehmen können und was ihm das Berliner Fichte-Gymnasium und die Mutter fürs Leben mitgegeben hatten. Es war dieses unsichtbare leichte Gepäck, das ihn sein ganzes Leben begleiten sollte: die deutsche Sprache und die deutsche Literatur. Er ist ihr ständiger Anwalt geblieben. Die deutsche Literatur hatte sich beim Überleben als »rettendes Geländer« (Ruth Klüger) bewährt, und sie sollte sich auch beim Neuanfang als tragfähiges Fundament erweisen.
Wir alle kennen die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Die kluge Tochter des Wezirs verlässt sich allein auf ihre Erzählkunst, die ihr das Leben retten soll. Eintausendundeinmal erfindet sie eine neue Geschichte, die den Sultan am Morgengrauen so begierig zurücklässt, dass er auf ihre Fortsetzung in der folgenden Nacht wartet. Die Geschichte muss eine Bedingung erfüllen: Sie muss spannend sein, auf Langeweile steht die Todesstrafe.
Als Tosia und Marcel Reich-Ranicki 1943 die Flucht aus dem Warschauer Ghetto gelang und sie sich bei einem Bauern verstecken konnten, erzählte er täglich Geschichten aus seinem Gedächtnisvorrat an Romanen, Opern, Dramen, Filmen. Bereits in dieser Situation erfuhr er, wie Literatur wirkt – je besser eine Geschichte war, je spannender also, desto mehr gab es für die Untergetauchten zu essen. Das bedeutete Leben.
IDEALIST Marcel Reich-Ranicki hat sich von mehreren Optionen vor allem für eine entschieden: das Gute an Deutschland herauszustellen – Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven. Nicht Mahner zu werden, nicht Rächer, nicht Kritiker der Deutschen, nur Literaturkritiker. Man könnte ihn fast einen Idealisten nennen.
Er brachte den Deutschen zuerst ihre im »Dritten Reich« verbotenen, verbrannten und ermordeten Dichter zurück, und mit ihnen beheimatete auch er sich hier wieder. Das alles gelang ihm, wiewohl er ein Autodidakt war, weder einen akademischen Abschluss hatte noch einer germanistischen Richtung angehörte. Ehrendoktorwürden und namhafte Preise wurden ihm zuteil. 1989 durfte ich die Laudatio bei der Bambi-Verleihung auf ihn halten.
Unbürgerlich, wie sein Leben nun einmal verlaufen war, neigte er zum direkten Wort, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen. Qua seines stupenden Kenntnisreichtums und mit der Furchtlosigkeit eines Überlebenden entfaltete er Autorität. Sein untrügliches Gespür für das Charakteristische an Günter Grass und Martin Walser war genauso wenig Zufall wie das Zerwürfnis mit Joachim Fest. Einer wie er wollte sich nicht ein weiteres Mal mundtot machen lassen. Er wollte gehört werden. Er musste gehört werden, um in der Gesellschaft seinen Wert, seinen Stellenwert wiederzufinden, dessen er so gnadenlos beraubt worden war.
Er neigte zum direkten Wort, ohne Rücksicht auf Konventionen.
Schließlich war der »Ruhm, der Erfolg … ein Mittel gesellschaftlich heimatloser Menschen, sich eine Heimat … zu schaffen«, wie Hannah Arendt schreibt. Marcel Reich-Ranicki hat sich mithilfe der Literatur wieder eine Heimat inszeniert. Von sich sagte er, er sei ein »Jude doloris causa«.
Nach seinem Vaterland befragt, antwortete er: »Von Heine stammt das schöne Wort, die Juden hätten sich im Exil aus der Bibel ihr portatives Vaterland gemacht. Und so bin auch ich schließlich weder ein heimatloser noch ein vaterlandsloser Mensch. Auch ich habe ein portatives Vaterland – es ist die deutsche Literatur, die deutsche Musik.«
Marcel Reich-Ranicki hat mit viel Mut aufs Ganze gesetzt. Er hat ein zweites Mal sein Leben an Deutschland gebunden – und gewonnen. Als Literaturchef der FAZ von 1974 bis 1988 machte er seine Seiten zur einflussreichsten Instanz der Literaturkritik. Als ich am 1. Oktober 2013 das Literaturforum der FAZ gründete und die »Frankfurter Anthologie« übernahm, bekam ich sein Zimmer, das schönste Zimmer auf der Etage. Einige Türen weiter wirkte der Herausgeber Frank Schirrmacher.
Auf Reich-Ranickis schwerem Schreibtisch lagen noch seine Akten, unbearbeitete Post, Bücher. Ich brachte es nicht fertig, auch nur ein Blatt zu bewegen oder irgendetwas im Raum zu verändern. Ich hörte ihn zu mir sprechen, eine Anekdote oder seine durchdringenden Fragen: »Was gibt es Neues?« oder »Wo ist Schirrmacher?«. In einem unserer letzten Telefonate insistierte er: »Du gehst zur FAZ. Was machst du da?« Ich antwortete ihm wieder mit einer seiner Losungen: »Der Literatur eine Gasse geben.«
Er fehlt. Ohne ihn ist es viel langweiliger geworden, ohne ihn, für den Langweilen eine Todsünde war.
Das schönste Geschenk zum Geburtstag hat ihm seine Frau Teofila zum 21. Geburtstag 1941 gemacht. Im Warschauer Ghetto übergab sie ihm, was er unbedingt haben wollte, aber nicht mehr zu bekommen war: Kästners Lyrische Hausapotheke, eigens für ihn von ihr abgeschrieben und hinreißend farbig illustriert. Das Heft hat die Katastrophe überstanden und ist als Faksimile nachgedruckt. Die Geburtstage und Hochzeitstage haben wir immer zusammen gefeiert. Meist nicht in Deutschland. Beim Feiern wollten sie nicht in Deutschland sein.
Die Autorin ist Publizistin und Literaturwissenschaftlerin sowie Gründerin der Literaturhandlung Berlin/München.