Interview

»Du bist ein bisschen jüdisch«

»Ich habe eine etwas andere Haltung zu dem, was im Moment passiert. Ich glaube, der Antisemitismus war immer da«: Christian Berkel Foto: Stephan Pramme

Christian Berkel ist sechs Jahre alt, als er unter dem Apfelbaum hinter dem Elternhaus eine Lektion in Identität erhält, die fortan sein Leben bestimmt: »Du bist ein bisschen jüdisch, aber nicht ganz. Und du bist auch kein ganzer Deutscher.« In Kinderohren klang das wie »kaputt«.

Mit 61 Jahren veröffentlichte der in West-Berlin geborene Schauspieler (Das Experiment, Der Kriminalist, Inglourious Basterds, Der Untergang) einen Familienroman, dessen Kern die Liebe seiner Eltern, der höheren jüdischen Tochter Sala und dem Berliner Arbeiterkind Otto, ist. Zwischen Kultur und Krieg, Alltag und Schoa sucht Berkel sich selbst – und findet, zum Glück, das Leben.

Herr Berkel, beim Lesen wird einem fast schwindelig – diese deutsche Geschichte, die eine europäische ist, zwischen Beginn und Ende des 20. Jahrhunderts, zwischen Krieg und Frieden, zwischen Judentum und Christentum …
Das ging mir auch so. Wohl auch deshalb habe ich das alles erst jetzt aufgeschrieben.

Und diese unglaubliche Geschichte ist Ihr Zuhause.
Ich bin oft gefragt worden, wie ich meine jüdische Identität erlebe. Das ist natürlich sehr komplex, wie man an dem Buch ja merkt. Ich bin nicht damit aufgewachsen. Ich war der Einzige in der Familie, der sich dafür interessiert hat. In diesem Sinne war meine Identifikation immer das Judentum der Diaspora, dieses Überall-Sein, dieses teilweise Dazugehören. Das habe ich durch die Geschichte unter dem Apfelbaum sehr früh sehr emotional und unmittelbar erlebt. Und darüber fand tatsächlich eine Identifikation statt. Das andere, und damit fühle ich mich sehr stark verbunden, ist die Sprache. Sich stark über Sprache zu definieren, ist etwas sehr Jüdisches. Tora lesen heißt Tora auslegen. Das ist im Judentum sehr viel stärker als im Christentum.

Sie sind christlich erzogen worden.
Ja, ich bin katholisch getauft, ich war Messdiener, bin dann aber ausgetreten.

Haben Sie sich damals nicht gefragt, was soll ich hier?
Schon als Kind hatte ich kein Gefühl von Zugehörigkeit. Mein Problem war eher, dass ich mir Zugehörigkeit wünschte. Gleichzeitig habe ich von meinem Vater eine ziemliche Abwehr gegen jede Form von Gruppierung geerbt. Noch heute, wenn ich in ein Rockkonzert gehe, und da sind Tausende Leute, muss ich mich enorm überwinden, das auszuhalten. Ich sehe diese Masse, sehe, wie leicht beeinflussbar sie ist, und muss sofort ans Dritte Reich denken. Ich kann nicht anders. Mein Vater hatte den Satz: drei Deutsche …

… ein Verein …
Genau (lacht). Als ich in Frankreich gelebt habe, hatte ich einen Lehrer, der eines Tages zu mir sagte: Sie leben in zwei Ländern, zwei Religionen, zwei Sprachen. Da ist so viel Teilung, irgendwann müssen Sie sich entscheiden!

Und? Muss man?
Die meisten Menschen sehen das sicherlich so. Ein jüdischer Freund sagte mir einmal: »Du kannst Jude sein oder Christ, das ist deine Sache. Ganz schlimm ist es, wenn du weder das eine noch das andere bist. Wenn du zwischen den Stühlen sitzt.« Da habe ich ihn angeguckt und gedacht: Aber da sitze ich leider. Oder auch nicht leider. Damals habe ich gedacht, leider – heute denke ich das nicht.

Warum sehen Sie das heute anders?
Weil auch das Zwischen-den-Stühlen-Sitzen eine Lebensmöglichkeit ist. Ich laufe nun schon eine Weile auf diesem Planeten herum, und ich bin eben auf diese Art herumgelaufen.

Wann genau haben Sie angefangen, dieses Buch zu schreiben?
Das erste Mal konkret darüber nachgedacht habe ich, als unser erster Sohn geboren wurde. Ich habe immer gewusst: Diese Geschichte ist so stark, die ist in mir drin und muss raus. Aber ich musste mit mir selbst an einen bestimmten Entwicklungspunkt kommen, um es mir zuzutrauen, um die Perspektive zu finden. Dann war es tatsächlich so, dass ich anfing, meine Mutter mit dem Tonband aufzusuchen, und in dem Moment ging es los …

Es ist sehr schmerzhaft, von Salas Demenz zu lesen …
Für mich war es auch so schlimm, weil unsere Beziehung eine sehr verbale war. Sprache war für uns nicht nur ein Verständigungsmittel, Sprache erzeugte Nähe. Und ich merkte, dass diese Art von Nähe immer weniger möglich war. Gleichzeitig dachte ich: Jetzt bist du zu spät. Dann habe ich aber gemerkt, dass sich in den Aufnahmen etwas versteckt – ich muss es nur finden. Bei dementen Menschen arbeitet das Gehirn plötzlich anders, und das Vergessen ist Teil der Erinnerung. Das war wie Dechiffrieren.

Ist »Der Apfelbaum« Ihre Mutter in konservierter Form?
Ich würde sagen, in erster Linie bin ich es.

Dann sind Sie auch Ihre Mutter?
Natürlich. Wie jeder Mensch.

Haben Sie nun, da die Geschichte aufgeschrieben ist, etwas in sich abgeschlossen?
Ich glaube, nichts ist je abgeschlossen, man hört nur irgendwann auf zu schreiben.

Herr Berkel, sind Sie religiös?
Die Gretchenfrage. Und Goethes Antwort ist genial: Wer kann sagen, ich glaub ihm, wer, ich glaub ihm nicht. Natürlich eine sehr sybillinische Antwort, aber so klug. Letzten Endes sind das alles Glaubensfragen, auch der Atheismus. Wenn jemand sagt, es gibt keinen Gott, kann er das genauso wenig beweisen wie der andere einen Gottesbeweis liefern kann. Aber Atheist bin ich sicher nicht. Das wäre mir zu absolut.

Sie haben bereits vor fünf Jahren vor einem »Salon-Antisemitismus« gewarnt. Fühlen Sie sich durch die aktuelle Entwicklung bestätigt?
Ich habe eine etwas andere Haltung zu dem, was im Moment passiert. Ich glaube, der Antisemitismus war immer da.

Die berüchtigten 25 Prozent.
Durch die Schoa hat es sich eine lange Zeit verboten, offen antisemitisch aufzutreten. Das heißt aber nur, dass wir es nicht genau wussten. So ist im Untergrund verschwunden, was gefährlich ist. Denn was im Untergrund ist, wissen wir nicht, auch nicht, wie es sich da entwickelt. Deshalb bin ich auch kein Freund von Verboten. Ich kann mich erst gegen Antisemitismus wehren, wenn er sichtbar ist.

Aber wo dann ansetzen?
Was mich viel mehr beunruhigt, sind die verbalen Übergriffe. Betrachtet man die Geschichte, hat es immer mit Sprache angefangen. Sprache wird so fürchterlich unterschätzt. Sprache ist die größte Waffe, die der Mensch besitzt, im Positiven wie im Negativen. Mit der Sprache konstruieren wir Wirklichkeit. Sprache ist unser Interpretationsinstrument, über das wir unsere Wirklichkeit festlegen. Nicht zwei Menschen lesen ein Buch gleich, jeder liest es auf seine Weise und erschafft damit sein Buch. So machen wir es mit allem. Wenn wir also zulassen, dass der Antisemitismus langsam über die Sprache Eingang findet, dann werden wir eines Tages aufwachen, und die Realität ist geschaffen.

Steht der Apfelbaum eigentlich noch?
Das Haus gibt es noch, aber es ist lange her, dass ich zuletzt dort vorbeigefahren bin. Vielleicht ist es auch gut, es nicht zu wissen.

Mit dem Schauspieler und Autor sprach Sophie Albers Ben Chamo.

Christian Berkel: »Der Apfelbaum«. Ullstein, Berlin 2018, 416 S., 22 €

Christian Berkel wurde 1957 in Berlin geboren. Seine Eltern lernten sich 1932 in Berlin kennen. Damals war seine jüdische Mutter Sala 13 Jahre alt, sein nichtjüdischer Vater Otto war 17. Berkels Mutter flüchtete 1938 nach Frankreich. Dort wurde sie während der deutschen Besatzung interniert. 1943 wurde sie in einen Zug nach Leipzig gesetzt und konnte untertauchen. 1945 emigrierte sie nach Argentinien und kehrte später nach Deutschland zurück. Als sein Vater, ein Arzt, 1950 aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückkam, fand das Paar wieder zusammen. Als Schüler lebte Berkel in Paris; mit 16 Jahren kehrte er nach Berlin zurück und absolvierte seine Schauspielausbildung. Heute gehört er zu den bekanntesten deutschen Schauspielern und war an zahlreichen europäischen Filmproduktionen sowie an Hollywood-Blockbustern beteiligt.

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