Channah Trzebiners Großvater Abraham Toper war eine Figur wie aus einem Coen-Brothers-Film. Er grabschte trotz seines hohen Alters Frauen gerne an den Po, ging im Supermarkt regelmäßig auf Diebestour und hortete in seinem Kleiderschrank Käse, Fleisch und Unmengen an Schokolade. Ein liebenswürdiger Mensch mit kleinen Meschigassen eben. Außer bei fröhlichen Familienfeiern: Dann bekam der Schoa-Überlebende schlimme Wutausbrüche, schrie herum und trat nach dem Hund.
Überhaupt ist Channah Trzebiners Mischpacha anders als die Familien ihrer nichtjüdischen Freunde. Da ist die Mutter, die Channah und ihre Schwester Zoé in einer Mischung aus Liebe und Angst fast erdrückt. Da ist die Tante, die, als die amerikanische TV-Serie Holocaust im deutschen Fernsehen läuft, der damals vierjährigen Zoe sagt: »Jetzt weißt du, wer die Deutschen sind, die Deutschen sind Mörder.« Und da sind vor allem all jene Angehörigen, die in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet wurden und in der Familie doch immer präsent sind.
narben Um diese Pole kreist die 1981 in Frankfurt am Main geborene Juristin in ihrem literarischen Debüt Die Enkelin, Untertitel Wie ich zu Pessach die vier Fragen nicht wusste. Die autobiografische Erzählung ist Anklage und Würdigung ihrer Familie zugleich. Anklage, weil in Trzebiners Elternhaus nur entweder depressive Stille oder hysterische Streitereien herrschen. Würdigung, weil die Tochter sich in jedem Moment bewusst ist, warum ihre Familie so ist, wie sie eben ist – und sie sie trotzdem bedingungslos liebt. »Wir können auch nichts dafür, dass unsere Großeltern gehetzt und getötet wurden und wir bestimmte Narben in uns tragen«, schreibt sie an einer Stelle.
Die Schoa lebt in Channah Trzebiner durch die Erzählungen ihrer Großeltern fort. Lange litt die junge Frau an Schuldgefühlen, wenn sie glücklich war. Sie brauchte viel Zeit und Anstrengung, um sich selbst das Recht zuzugestehen, auch unbeschwert und ausgelassen sein zu dürfen – ein harter Prozess.
wut Der Tonfall, in dem all das berichtet wird, ist mal versöhnlich, mal voller Wut. Letzteres vor allem, wenn es mal wieder im privaten »deutsch-jüdischen Dialog« scheppert. »Die KZs waren nicht integrativ, verdammt noch mal, sondern haben uns gezeigt, dass man sich nur auf die eigenen Leute verlassen kann«, schreibt Trzebiner nach einer Konfrontation mit einer deutschen Freundin, die meint, das alles, sprich, die Schoa, sei doch schon so lange her. »Du lieber Himmel, dachte ich, wann werden die Leute denn endlich verstehen, dass eine Ausgrenzung dieser Art eine eigene Zeitspanne für das Verzeihen braucht.«
Channah Trzebiner hat sich mit ihrem Buch von ihrer Familie freigeschwommen – aber sie verrät sie nicht. Jeder, noch der kritischste Satz, zeugt von liebevoller Verbundenheit. Sie wohnt als Jüdin in Deutschland, im Bewusstsein der emotionalen Belastungen, die das nicht selten für sie mit sich bringt. Wer wissen will, wie die dritte jüdische Generation nach der Schoa 2013 in diesem Land lebt, denkt und fühlt, sollte dieses Buch lesen. Um es mit den Worten der Autorin zu sagen: »Was bleibt nach so einer Katastrophe: zwischenmenschlich kaputte Beziehungen. Auf beiden Seiten.«
Channah Trzebiner: »Die Enkelin. Oder wie ich zu Pessach die vier Fragen nicht wusste.«. Weissbooks, Frankfurt am Main 2013, 243 S., 19,90 €