»Frei im Wollen. Frei im Thun. Frei im Genießen«. Auch im sechsten Jahr ist Tobias Kratzers Tannhäuser die beliebteste Produktion der Festspiele auf dem Grünen Hügel. Zwischen Venushügel und Wartburg, zwischen Anarcho-Wohnwagen, Wagner-Weihestätte und Pausensession am Teich bleibt sie frech, witzig und tiefsinnig und hat sich, dem Bayreuther Werkstattgebot gemäß, topaktuell verändert.
Aufreger nicht nur für Liebhaber von Wagner-Werken war die Idee von Claudia Roth, auf dem Hügel auch andere Komponisten und deren Opern zu spielen. Man könnte, so die Kulturstaatsministerin vor der Eröffnung, durchaus Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel im Festspielhaus geben.
Helene Fischer vielleicht? Oder Ton Steine Scherben?
Roths skurriler Vorschlag ist eine herrliche Vorlage für Spott aller Arten. Was denn noch? Helene Fischer vielleicht? Oder Ton Steine Scherben, die Band, die Roth einst gemanagt hatte? Regisseur Kratzer konnte sich diese Steilvorlage nicht entgehen lassen und reagierte prompt: die Tannhäuser-Verführerin Venus reist im Citroënkastenwagen mit ihren Jungs, dem kleinen Oskar, dem Drag-Artisten Le Gateau Chocolat und Tannhäuser durch die Lande und entdecken an einem Kiosk ein gelbes Veranstaltungs-Plakat mit einer Märchenillustration. Zwei Kinder vor einem Hexenhäuschen. »Dr. Claudias Kasperltheater. Hänsel und Gretel. Bayreuth Festspielhaus vom 25. Juli 2024 bis 27. August«.
Claudia Roth musste sich zwar von ihrem Plan distanzieren, aber die Irritation bleibt.
Kasperltheater, das sitzt. Roth musste sich zwar von ihrem Plan distanzieren, aber die Irritation bleibt: eine Kulturstaatsministerin soll die Rahmenbedingungen schaffen für das kulturelle Leben im Land. Detaillierte Einmischungen zu Spielplänen sind einer Demokratie mit dem Gebot der Kunstfreiheit nicht angemessen. Leider war Claudia Roth nur bei der Eröffnung mit Tristan und Isolde anwesend, sie hätte sonst das Amüsement der Zuschauer teilen müssen. Und sie hätte die klügste Produktion des Hauses erlebt mit berührenden und komischen, heiteren und musikalisch traumhaften Momenten, die das Publikum mit Jubelstürmen begleitete.
Klaus Florian Vogt singt im zweiten Jahr jene Rolle, die zuvor Stephen Gould unvergessen interpretiert hatte. Die allgegenwärtige Videokamera zeigt im Wohnwagen den kleinen Blechtrommel-Oskar mit Tränen in den Augen. Er schenkt sich einen Schnaps ein und blickt wehmütig auf das Foto des früh verstorbenen amerikanischen Sängers. Spontaner Applaus brandet auf. Das Bayreuther Publikum vergisst seine Lieblinge nicht.
Star dieses Abends ist neben Vogts Tannhäuser Elisabeth Teige mit ihrem unendlich lyrischen, warmen und doch herrlich kraftvollen Sopran. Ihre Elisabeth ist rein, diskret und depressiv, im Gegensatz zum ungezogenen Girlie Venus. Das Publikum liebt auch die Bayreuthdebütantin Irene Roberts, sie spielt sinnlich und verwegen, ihr Vibrato allerdings war für manche Ohren grenzwertig.
Der Supergag des Abends funktioniert auch in diesem Jahr
Der Supergag des Abends funktioniert auch in diesem Jahr: Der Inspizient telefoniert mit Katharina Wagner. »Achtung, wir haben hier betriebsfremde Personen im Festspielhaus!« Die Chefin ruft die Polizei, die rast mit Blaulicht den Hügel hoch, das Publikum ist dank Videoüberwachung dabei, und schließlich stürmen die Polizisten die Bühne. Lacher garantiert. Tränen hingegen werden verdrückt, wenn Markus Eiche als Wolfram im düsteren dritten Aufzug den Abendstern hinreißend anbetet.
In einer Art Second Screen begleitet die Kamera das Treiben hinter der Bühne auch, nachdem die Roadmovietruppe das Festspielhaus geentert und den Gang entdeckt hat mit den Fotos der Orchesterleiter. Das Schild Dirigentenhalle verändert Chocolat in Dirigent*innenhalle, keineswegs nur als Gag zum modernen Gendern, denn Nathalie Stutzmann dirigiert feinfühlig und ausdrucksstark, dynamisch und sensibel. Das Publikum feiert sie frenetisch, ebenso den Chor, das Ensemble und die Regie.
Wenige Buhrufe der Hardcore-Konservativen gegen Kratzer gehen unter. Standing Ovations, viele Vorhänge. Dies ist ein Wink mit dem Zaunpfahl. »Frei im Thun«. Lasst Regeln sausen und das Publikum weiterhin genießen.