NS-Geschichte

Dokumente in 16 Bänden

Frank-Walter Steinmeier und Susanne Heim bei der Übergabe der Edition im Schloss Bellevue Foto: picture alliance/dpa

Bereits die Zahlen verweisen auf die Dimensionen des Projekts mit dem sehr nüchtern klingenden Arbeitstitel »Verfolgung und Ermordung der Juden Europas durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945« oder kurz VEJ: rund 5000 Dokumente auf knapp 14.000 Seiten in 16 Bänden.

Schlusspunkt Der letzte davon – als Band 15 der Reihe; der 16. Band zu Auschwitz und den Todesmärschen ist bereits 2019 erschienen – wurde jetzt im Mai veröffentlicht und bildet den Schlusspunkt von 15 Jahren akribischer wissenschaftlicher Tätigkeit. In 315 Schriftzeugnissen wird in dem Band nicht nur das Schicksal der Juden nach der Besatzung Ungarns durch die deutschen Truppen im März 1944 dokumentiert, sondern ebenfalls ihr bereits seit 1938 sukzessiv vollzogener Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben des Landes.

Präsentiert wurde das Ganze vor wenigen Tagen von niemand Geringerem als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. »Die Quellen führen uns aus vielen Perspektiven vor Augen, wie jüdische Menschen damals in Deutschland und in den von Deutschen besetzten Ländern entrechtet, enteignet, gedemütigt, denunziert, verschleppt, gefoltert und ermordet wurden.

Sie lassen uns das Leid, die Angst und Verzweiflung der Opfer spüren; den Hass, die Niedertracht und Menschenfeindlichkeit der Täter; die Gleichgültigkeit vieler Zuschauer und den Mut der wenigen, die versucht haben, Juden zu retten«, sagte Steinmeier im Schloss Bellevue. »Es ist das große Verdienst dieser Sammlung, dass sie ein vielschichtiges Bild des Holocaust zeichnet, auch wenn die grausamen Details, die lapidaren, buchhalterischen Berichte der Täter oft kaum zu ertragen sind.«

MAMMUTAUFGABE »Ich bin glücklich, dass wir diese Mammutaufgabe gestemmt haben«, betonte Susanne Heim, eine der acht Herausgeber der Edition, kürzlich gegenüber der Wochenzeitung »Die Zeit«. »Zehn Jahre hatten wir eingeplant, ein internationales Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, und es war keineswegs klar, ob das, was wir vorhatten, funktionieren würde«, so die Historikerin von der Freien Universität Berlin.

Doch es wurden deutlich mehr als zehn Jahre. Denn zum einen standen die Experten vor der Herausforderung, aus einem wahren Berg von Dokumenten die wirklich relevanten und publikationswürdigen herauszufiltern, zum anderen, gleich mehreren Perspektiven gerecht zu werden.

Dabei hatte man sich, wie es Heim auf den Punkt brachte, auf eine Art Faustformel geeinigt, und zwar 40 Prozent Opfer-Dokumente, ebenfalls 40 Prozent solche aus der Feder von Tätern und 20 Prozent Darstellungen von Personen, die aus einer beobachtenden Sicht die Ereignisse beschreiben. Damit will man genau der dreiteiligen Struktur folgen, die auf Raul Hilberg, einen der Pioniere der Holocaust-Forschung, zurückgeht.

Die Struktur – Dokumente von Opfern, Tätern und Zuschauern – geht auf Raul Hilberg zurück.

Ziel der Historiker war es, eine wissenschaftliche Edition zu erstellen, die das Geschehen in seiner Gesamtheit erfasst und sowohl Schlüsseltexte wie beispielsweise das Protokoll der Wannsee-Konferenz enthält, darüber hinaus aber auch viele bis dato unbekannte Quellen zugänglich machen sollte. »Dokumentiert werden die Aktivitäten und Reaktionen von Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Überzeugungen, an verschiedenen Orten, mit jeweils begrenzten Horizonten, Handlungsspielräumen und Absichten. Besonders am Herzen liegen den Herausgeberinnen und Herausgebern Privatbriefe, Tagebuchnotizen und Hilferufe der verfolgten Juden«, heißt es dazu seitens des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), das für die Edition verantwortlich ist.

DOKUMENTENBÄNDE Jetzt könnte man verwundert fragen, ob es nicht bereits ausreichend Material zu dem Thema gibt. Und in der Tat existieren bereits Hunderte solcher Dokumentenbände.

Doch wie Dieter Pohl anmerkte, genügen diese manchmal nicht den wissenschaftlichen Standards. »Hingegen bieten hervorragend aufbereitete Publikationen wie etwa die laufende Edition des sogenannten Ringelblum-Archivs aus dem Warschauer Ghetto nur einen kleinen Ausschnitt aus dem gesamten Geschehen in Europa«, so der Historiker, der an der Universität Klagenfurt lehrt und ebenfalls dem Herausgebergremium angehört, in seiner Präsentation des Vorhabens in einem Beitrag in den »Vierteljahresheften für Zeitgeschichte« von 2005. »Bis heute fehlt also eine umfassend angelegte wissenschaftliche Quellenedition zur Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft.« Und genau diese Lücke wollte man mit dem ambitionierten Projekt schließen.

Zudem ist die Quellenbasis mittlerweile eine andere, weil nach 1989 wichtige Archive hinter dem »Eisernen Vorhang« zugänglich wurden oder in Westeuropa die über Jahrzehnte geltende Sperrfrist mancher Bestände erst peu à peu entfallen musste. Den Anfang der Edition machte denn auch der 2008 erschienene Band, der Dokumente der Jahre 1933 und 1937 aus dem Deutschen Reich enthält. Weitere Bände legen den Fokus auf einzelne Länder wie die Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Und weil in Polen oder der ehemaligen Sowjetunion die meisten Juden lebten und das Morden millionenfach stattfand, gibt es zu diesen Ländern jeweils zwei Bände. Zudem finden sich in einem weiteren Band Quellen rund um das Konzentrationslager Auschwitz sowie die Todesmärsche am Ende des Zweiten Weltkriegs.

ERFAHRUNGSBERICHTE Manche Dokumente haben auch ihre ganz eigene Geschichte, wie beispielsweise die bedrückenden Erfahrungsberichte eines Ende der 30er-Jahre nach Ungarn geflohenen Ehepaars aus Österreich, das in den Jahren danach ermordet wurde. Aus einem Gefängnis schreiben sie an ihre Kinder, und zwar auf Toilettenpapier. Dieser Brief erreichte dennoch seine Empfänger, die die Schoa überleben sollten und in die Vereinigten Staaten ausgewandert waren.

Sie wiederum übergaben das Schreiben an das Archiv von Yad Vashem, wo es die Historikerin Regina Fritz, verantwortlich für den nun erschienenen Band zu Ungarn, dann entdeckte und in die Quellensammlung mitaufnahm. Nicht zuletzt deshalb bezeichnete Bundespräsident Steinmeier die Edition als »Mahnmal gegen das Vergessen«.

»Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945«. Herausgegeben von: Bundesarchiv, Institut für Zeitgeschichte und Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg. Band 15: »Ungarn 1944–1945«. Bearbeitet von Regina Fritz. De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2021. 850 S., 59,95 €

Meinung

Antisemitische Scheinheiligkeit im Kulturbetrieb

Sally Rooney klagt in einem neuen Boykottaufruf Israel an, schweigt aber zu Unrechtsregimen wie dem in China

von Jacques Abramowicz  31.10.2024

Australien

Thom Yorke stellt Störer zu Rede

Der Konzertteilnehmer hatte den Sänger aufgefordert, sich zum Gaza-Krieg zu positionieren

 31.10.2024

Kolumne

Jerry Seinfeld, rette mich!

Wenn die Gleichzeitigkeit von Raketen auf Israel und Kaffeetrinken in Berlin mich durchdrehen lässt, brauche ich eine forcierte Übersprungshandlung

von Sophie Albers Ben Chamo  31.10.2024

Sehen!

»Riefenstahl«

Andreas Veiel entlarvt in seinem Film die Bildmanipulatorin zwischen Hitler-Hype, radikaler (gespielter?) Naivität und Ehrgeiz

von Jens Balkenborg  31.10.2024

Frankfurt am Main

Goethe-Universität und Jüdische Akademie kooperieren

Neben gemeinsamen Forschungsprojekten soll es auch eine Zusammenarbeit bei Vorlesungsreihen, Workshops, Seminaren, Konferenzen sowie Publikationen geben

 31.10.2024

Kultur und Unterhaltung

Sehen, Hören, Hingehen

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 31. Oktober bis zum 7. November

 31.10.2024

Frankfurt am Main

Sonderausstellung zu jüdischer Trauerkultur

Die Schau informiert auch über Vorstellungen des Judentums von Unterwelt und Jenseits, besondere Trauerrituale und Formen des Totengedenkens

 30.10.2024

Berlin

Israelsolidarische Kneipe »Bajszel« attackiert

Zum wiederholten Mal gab es einen mutmaßlich antisemitischen Anschlag auf die Neuköllner Kulturkneipe

von Ralf Balke  30.10.2024

Interview

»Gemeinsam forschen«

Enrico Schleiff über die Kooperation mit der Jüdischen Akademie, die Geschichte der Goethe-Universität und Proteste auf dem Campus

von Joshua Schultheis  30.10.2024