Was für eine Geschichte! Eine 102-Jährige wird zum Doktor der Medizin ernannt – und ist vermutlich die älteste Doktorandin der Welt. Ingeborg Syllm war 1938 am Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) die Promotion verweigert worden – weil sie den Rassengesetzen der Nazis zufolge als »Halbjüdin« galt. Nun wollte das UKE versuchen, das damalige Unrecht wiedergutzumachen.
Schon die bloße Meldung sorgte für ein internationales Presseecho. Anfang Juni legte Ingeborg Syllm-Rapoport, die nach dem Krieg in Ost-Berlin eine bekannte Kinderärztin war, ihre mündliche Promotionsprüfung ab.
Promotionsfeier Nun folgte an diesem Dienstag die Promotionsfeier – fast 80 Jahre, nachdem Ingeborg Syllm ihre Doktorarbeit vorgelegt hatte. Ihr Doktorvater Rudolf Degkwitz hatte die Arbeit (Thema: die Kinderkrankheit Diphterie) 1937 angenommen, konnte die Studentin aber nicht zur mündlichen Prüfung einladen.
Drei Dutzend Fotografen, diverse Fernsehteams, Blitzlicht, Filmlicht, Universitätsprominenz. Der Festsaal des UKE platzt am Dienstagmittag aus allen Nähten. »Das ist heute hier eine Promotionsfeier, keine Pressekonferenz, bitte versuchen Sie ...«, bemüht sich eine sichtlich gereizte Mitarbeiterin, für ein wenig Ordnung zu sorgen. Dann kommt Ingeborg Syllm-Rapoport, Jahrgang 1912: klein, leicht gebückt, strahlend weißes Haar. Sie setzt sich in die erste Reihe, umgeben von ihren Kindern und Enkeln – und auch von einem Urenkel, der zwischendurch immer mal wieder fröhlich krähen wird.
Unweit vom UKE ist Ingeborg Syllm aufgewachsen – als Kind einer verarmten Großbürgerfamilie. Die Mutter war Jüdin. 1927 verließ der Vater Hals über Kopf die Familie. Nun musste die Mutter die Kinder allein durchbringen – als Klavierlehrerin. Die Tochter sollte entsprechend schnell einen Beruf erlernen und Geld verdienen, aber sie entschied sich für das Studium der Medizin, gegen alle Widerstände.
Diskriminierung Nach der Machtübernahme der Nazis durfte sie nicht mehr in die Mensa der Uni gehen. Sie erhielt eine gelbe Studentenkarte. Bei Klausuren trugen ihre Prüfungsbögen einen gelben Streifen – in der Farbe des »Judensterns«, der in Deutschland erst 1941 eingeführt wurde.
Mit 25 Jahren, im Sommer 1937, meldete sich Ingeborg Syllm zur Promotion an. Ein Jahr später bescheinigte ihr Doktorvater Degkwitz – ein zum Oppositionellen gewandelter ehemaliger Nationalsozialist – die hohe Qualität der Dissertation zu den Ursachen der Diphtherie. Mehr konnte er nicht tun: Die Behörden nahmen die Arbeit nicht an; zur mündlichen Prüfung wurde Ingeborg Syllm nicht zugelassen.
Glücklicherweise konnte sie im Herbst 1938 in die USA emigrieren, mit einem Koffer und 38 Reichsmark. Sie musste – weil ihr ein Doktortitel fehlte – nachschulen. Die junge Emigrantin schlug sich durch, arbeitete als Kinderärztin und lernte den Wiener Juden, Biochemiker und Kommunisten Samuel Mitja Rapoport kennen.
DDR In den USA der McCarthy-Ära fanden die beiden Sozialisten keinen Platz. Sie gingen nach Wien, dann kam ein Angebot aus der DDR. Ingeborg Syllm-Rapoport wurde eine der führenden Kinderärztinnen und Leiterin der Neonatologie an der Ost-Berliner Charité – und schließlich auch Professorin. Per Zufall erfuhr der Dekan des UKE von ihrer Geschichte. Und nahm das Promotionsverfahren wieder auf – 77 Jahre danach.
In den Ansprachen am Dienstagmittag ist viel von Unrecht die Rede, das man nicht ungeschehen machen kann, aber das sich vielleicht lindern lässt. Dabei kann die Feierstunde nicht über eines hinwegtäuschen: Das UKE hat es wie andere medizinische Institutionen lange strikt vermieden, sich seiner Geschichte während der NS-Zeit zu stellen. Erst Anfang der 80er-Jahre begann man vorsichtig, die Archive zu öffnen und unbequeme Fragen zuzulassen.
Dabei stieß man nicht nur auf die 16 jüdischen Professoren, die man 1933 sofort entließ, sondern auch auf die jüdischen Studenten, die man aus den Hörsälen drängte, bis am Ende noch drei von ihnen übrig waren – eine dürfte Ingeborg Syllm gewesen sein. Lange beschwor man auch am UKE die Formel von den fachlich herausragenden Wissenschaftlern, die sich leider mit dem Bösen eingelassen hätten.
Gefühle Und die 102 Jahre alte Doktorandin? Die Erinnerungen an die tiefe Einsamkeit der ersten Jahre in den USA, als sie keine Freunde hatte, hätten ihr seit einiger Zeit besonders nachts zugesetzt, sagt sie. Was sie selbst überrascht habe.
Ingeborg Syllm-Rapoport schwankt zwischen Freude und Trauer, als sie die Urkunde in der Hand hält. Freude, dass es geschafft ist, auch wenn ihr der Titel nicht mehr viel bedeutet. Trauer um die, die einen solchen Tag nicht erleben konnten. Sie sagt: »Ich habe an die, die viel Schlimmeres als ich erleben mussten, in den letzten Wochen sehr viel in Schmerzen denken müssen.«