Literatur

Doktor Schiwago in Bayern

Vor 60 Jahren starb der legendäre russisch-jüdische Dichter Boris Pasternak. Eine Spurensuche in Deutschland

von Katrin Diehl  05.06.2020 10:21 Uhr

Aus der Sammlung des Pasternak-Museums in Peredelkino: Porträt des Schriftstellers Boris Pasternak (1890-1960) Foto: dpa

Vor 60 Jahren starb der legendäre russisch-jüdische Dichter Boris Pasternak. Eine Spurensuche in Deutschland

von Katrin Diehl  05.06.2020 10:21 Uhr

Nullerjahre sind Pasternak-Jahre. Boris Pasternak, der russische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger, der vor allem mit seinem Roman Doktor Schiwago zu Weltruhm gelangte, wurde 1890 in Moskau geboren; 70 Jahre später, 1960, starb er in Peredelkino, einer Künstlerkolonie vor den Toren Moskaus. Es heißt, Boris Pasternak sei an der Affäre um seinen wohl berühmtesten Roman zerbrochen.

Die Geschichte von Doktor Schiwago, in der ein Intellektueller angesichts der Gewaltexzesse nach der Oktoberrevolution von 1917 die Idee des Kommunismus verraten sieht, hatte den Schriftsteller bei der Sowjetregierung in Misskredit gebracht.

Das Buch war 1956 in den Westen gelangt, erschien dort ohne die Erlaubnis der sowjetischen Behörden auf Italienisch, Englisch, Deutsch, Französisch und sogar auf Russisch.

VOLKSFEIND Die Sowjetunion erklärte Pasternak öffentlich und mit allen erdenklichen Folgen zum »Volksfeind«. Als der Schriftsteller 1958 den Literaturnobelpreis verliehen bekam, durfte er ihn nicht selbst entgegennehmen.

Auch seine Herkunft mag in die politische Kampagne gegen ihn hineingespielt haben – Boris Pasternak war Jude. In Moskau als Sohn jüdischer Eltern geboren, wuchs Boris Pasternak in einem intellektuellen und künstlerischen Milieu auf. Sein Vater Leonid war Künstler und Professor an der Moskauer Schule für Malerei, seine Mutter Rosalja Kaufmann eine bekannte Pianistin. Für Boris war seine jüdische Herkunft allerdings ein fast befremdlicher Zustand, der bis heute interessiert in die eine oder andere Richtung gedeutet wird.

Trotz des runden Jubiläums seines Todestages in diesem Jahr am 30. Mai scheint der russische Schriftsteller etwas in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei sind es vor allem seine Gedichte, emotionsschwer wie modern, über die Kenner bis heute ins Schwärmen geraten.

Die Jubiläumsausstellung in Moskau beleuchtet verschiedene Orte seines Schaffens.

Gedacht wird seiner in diesem Jahr ausgiebig – trotz Corona – in der früheren Datscha in der Pawlenko-Straße Nummer 3 in Peredelkino, die er 1939 bezogen hatte. Seit 1990 ist das Haus ein Museum. Seit Anfang dieses Jahres läuft dort die Ausstellung Topografie des Schicksals, die aus den drei Ausstellungsteilen »Moskau«, »Deutschland« und »Ural« besteht. Sie werden nacheinander gezeigt. Im Januar, Februar und Anfang März strömten jede Menge Besucher in die Ausstellung.

HELD »Das ist eine Nachricht, die mich sehr, sehr freut«, sagt Nina S. Das Münchner Gemeindemitglied lebt in München, weit über 2000 Kilometer von Moskau entfernt. Sie möchte ihren Familiennamen nicht preisgeben – aus Angst vor Antisemitismus. Überhaupt möchte Nina S., wenn sie von Boris Pasternak erzählt, eigentlich gar nicht vorkommen, denn es soll nur um »ihn« gehen, ihren Helden, um Boris und dessen Familie, mit der sie sich irgendwie »mystisch verbunden fühlt«.

Nina S. kam 1997 mit 50 Jahren aus der Sowjetunion nach Deutschland, als jüdischer Kontingentflüchtling. Pasternaks Leben und Werk hat immer wieder ihren Weg gekreuzt, und seit einiger Zeit beschäftigt sie sich ausführlich mit den engen Beziehungen des Schriftstellers und dessen Familie zu Deutschland, zu München – ihrer neuen Heimat.

Sie läuft Bibliotheken und Archive ab, hat Kontakt mit dem Museum in Peredelkino aufgenommen und dort die Mitarbeiterinnen über ihre neuen Rechercheergebnisse per E-Mail oder Telefon informiert.

Vor 50 Jahren konnte man das Grab Pasternaks auf dem nahen Friedhof nur mit Mühe finden, heute ist alles zugänglich.

Eigentlich wollte die 73-Jährige im Mai nach Peredelkino reisen, ein Traum von ihr. Man hatte sie als »ehrenamtliche freie Mitarbeiterin« persönlich dorthin eingeladen. Es sollte ihr zweiter Besuch des Museums werden. Doch die Corona-Pandemie legte die Pläne vorerst auf Eis.

DATSCHA Vor dem Haus hatte sie schon früher einmal gestanden, in den 70er-Jahren. Und sie habe damals wirklich gestaunt, erzählt sie. Die Datscha wirkte sehr verloren, man durfte nicht hinein, und überhaupt sei alles, was sie bis dahin von »diesem Pasternak« gehört hatte, nur »Schlechtes, Schlechtes, Schlechtes« gewesen. Das Grab Pasternaks auf dem nahen Friedhof konnte nur finden, wer sich mühte.

Und das tat sie. Nina S. kaufte sich eine Biografie über Pasternak, »die Biografie schlechthin«, wie sie sagt, im Museum werde sie heute noch »wie eine Bibel« gehandelt – geschrieben von Pasternaks Sohn Jewgeni, der 2012 verstarb –, und legte los mit ihren Erkundungen. Eines kam zum anderen. Nina S. zeigt Kopien, ordentlich in Klarsichtfolien geschoben und in einem Ordner abgelegt. Und beginnt zu erzählen.

Boris Pasternaks Vater hatte als junger Mann zwei Jahre lang an der Königlichen Akademie in München studiert. Bevor er eine Wohnung mit Atelier finden konnte, lebte der Maler und spätere Kunstprofessor in der Adalbertstraße 82. Bereits 1921 war die Familie von Moskau nach Berlin gezogen. Pasternaks Mutter Rosa hatte ein Herzleiden und hoffte auf bessere medizinische Versorgung, Leonid auf Kunstfreiheit.

Auch die jüngere Schwester Lydia war mitgekommen, wobei sie und die ältere Schwester Josephine Ende der 20er-Jahre nach München weiterzogen. Dort kam Lydia als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Chemischen Abteilung im damaligen Kaiser-Wilhelm-Institut unter – wo im Kasino Gemälde ihres Vaters hingen, bis sie nach 1933 durch Hitler-Porträts ersetzt wurden. Josephine, die Philosophie studiert hatte, war mit Fedja Pasternak, einem jungen Mann aus der weiteren Verwandtschaft, verheiratet. Fedja war in München als Bankier tätig.

In Marburg lernte Boris Pasternak den jüdischen Philosophen Hermann Cohen kennen.

Lydia heiratete 1935 den englischen Mediziner und Psychologen Eliot Slater, zog mit ihm nach Oxford, wohin ihr 1938 die Eltern und die Schwester mit Familie aus Nazideutschland folgten.

Für die Münchner Zeit ist anhand von Briefen, die Boris Pasternak an seine Familie geschrieben hatte, die Adresse Laplacestraße 6 in München-Bogenhausen auszumachen. Dort ist wohl auch oft der Vater, Leonid Pasternak, zu Gast gewesen, hat Freunde eingeladen, zum Beispiel auch Chaim Bialik, mit dem er 1924 eine »Kunstreise« nach Palästina unternommen hatte.

KURORT Ortswechsel, Zeitwechsel: Anfang des 20. Jahrhunderts gab es den unter betuchteren Russen weit verbreiteten Trend, sich im beliebten Kurort Bad Kissingen zu erholen. So tat es im Jahr 1912 auch die Familie Pasternak, die Eltern und die zwei Schwestern.

Bruder Boris weilte zu jener Zeit in Marburg, fühlte sich als Philosophiestudent von den Neukantianern stark angezogen – insbesondere von Hermann Cohen, bei dem er studierte. Zwischendurch fuhr er von Marburg aus auch nach Bad Kissingen, um seine Familie zu treffen. Der Philosophie sagte er bald ade. Ab jetzt sollte es für ihn nur noch die Literatur sein.

Bad Kissingen ist bis heute ein guter Ort zum Entspannen. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) bietet dort der älteren Generation Bildungsaufenthalte an. Man ist dann im Kurheim »Beni Bloch«, ehemals »Eden-Park« untergebracht.

Nina S. war auch einmal dort. In ihrer freien Zeit suchte sie nach Spuren ihres Helden. Im Stadtarchiv stieß sie auf die Kurliste aus dem Jahr 1912, fand die Familie Pasternak und ebenfalls Angaben dazu, wo diese damals untergebracht war: in der schönen »Ölmühle Villa«. Und die liegt dem Kurheim »Beni Bloch« genau gegenüber.

Meinung

Antisemitische Scheinheiligkeit im Kulturbetrieb

Sally Rooney klagt in einem neuen Boykottaufruf Israel an, schweigt aber zu Unrechtsregimen wie dem in China

von Jacques Abramowicz  31.10.2024

Australien

Thom Yorke stellt Störer zu Rede

Der Konzertteilnehmer hatte den Sänger aufgefordert, sich zum Gaza-Krieg zu positionieren

 31.10.2024

Kolumne

Jerry Seinfeld, rette mich!

Wenn die Gleichzeitigkeit von Raketen auf Israel und Kaffeetrinken in Berlin mich durchdrehen lässt, brauche ich eine forcierte Übersprungshandlung

von Sophie Albers Ben Chamo  31.10.2024

Sehen!

»Riefenstahl«

Andreas Veiel entlarvt in seinem Film die Bildmanipulatorin zwischen Hitler-Hype, radikaler (gespielter?) Naivität und Ehrgeiz

von Jens Balkenborg  31.10.2024

Frankfurt am Main

Goethe-Universität und Jüdische Akademie kooperieren

Neben gemeinsamen Forschungsprojekten soll es auch eine Zusammenarbeit bei Vorlesungsreihen, Workshops, Seminaren, Konferenzen sowie Publikationen geben

 31.10.2024

Kultur und Unterhaltung

Sehen, Hören, Hingehen

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 31. Oktober bis zum 7. November

 31.10.2024

Frankfurt am Main

Sonderausstellung zu jüdischer Trauerkultur

Die Schau informiert auch über Vorstellungen des Judentums von Unterwelt und Jenseits, besondere Trauerrituale und Formen des Totengedenkens

 30.10.2024

Berlin

Israelsolidarische Kneipe »Bajszel« attackiert

Zum wiederholten Mal gab es einen mutmaßlich antisemitischen Anschlag auf die Neuköllner Kulturkneipe

von Ralf Balke  30.10.2024

Interview

»Gemeinsam forschen«

Enrico Schleiff über die Kooperation mit der Jüdischen Akademie, die Geschichte der Goethe-Universität und Proteste auf dem Campus

von Joshua Schultheis  30.10.2024