Meinung

documenta der Schande

Die zahlreichen Antisemitismusskandale bei der Ausstellung markieren eine Zäsur. Nun müssen harte Konsequenzen folgen – auch für Kulturstaatsministerin Claudia Roth

von Philipp Peyman Engel  22.06.2022 11:23 Uhr

Philipp Peyman Engel, Chef vom Dienst bei der Jüdischen Allgemeinen Foto: Marco Limberg

Die zahlreichen Antisemitismusskandale bei der Ausstellung markieren eine Zäsur. Nun müssen harte Konsequenzen folgen – auch für Kulturstaatsministerin Claudia Roth

von Philipp Peyman Engel  22.06.2022 11:23 Uhr

Selten war die jüdische Gemeinschaft in Deutschland so in Aufruhr. Ganz gleich, mit wem diese Zeitung in den letzten Tagen zwischen Berlin und Bonn oder Konstanz und Kiel gesprochen hat – mit Schoa-Überlebenden, Künstlern, Funktionären, Journalisten oder ganz normalen Gemeindemitgliedern –, die Betroffenheit, das Entsetzen, ja der Schock unter jüdischen Deutschen ist immens.

Die weltweit wichtigste Kunstausstellung documenta sorgt seit Wochen für einen Antisemitismusskandal nach dem nächsten, jeder für sich genommen mit einer Tragweite, wie man es bis vor Kurzem noch für undenkbar gehalten hätte. Es ist ein Scheitern, das seinesgleichen sucht.

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Wie also kann es sein, dass jüdische Künstler aus Israel von der Weltkunstausstellung in Kassel gezielt ausgeschlossen wurden? Wie kann es sein, dass Proteste von jüdischen Verbänden gegen diese Entscheidung komplett ignoriert wurden? Wie kann es sein, dass auf der documenta das wohl scheußlichste antisemitische »Kunstwerk« ausgestellt wurde, das seit 1945 öffentlich in Deutschland zu sehen war?

Wie kann es sein, dass Juden auf einem Gemälde als Schwein samt Davidstern und »Mossad«-Aufschrift gedemütigt werden? Wie kann es sein, dass Juden in einem »Kunstwerk« in einer Art und Weise dargestellt werden, wie man es sonst nur aus dem NS-Hetzblatt »Stürmer« kennt: mit Pejes, Kippa, übergroßen Monsterzähnen, blutrünstigen Augen und SS-Abzeichen auf dem Hut? Wie kann es sein, dass ein anderes Werk die israelischen Streitkräfte mit der Wehrmacht vergleicht?

Kurz: Wie konnte es so weit kommen, dass die in Handlungen und Zielen antisemitische BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) ihren Hass auf Israel und Juden bei der documenta ungehindert verbreiten konnte?

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Schuld daran sind, man muss es ganz klar sagen, die Entscheider im sonst so auf korrekte Haltung bedachten Kultur- und Politikbetrieb. Konkret: Dass die documenta nun weltweit mit Antisemitismusskandalen statt mit feinsinnigen Kunstbetrachtungen Schlagzeilen macht, dafür ist – neben documenta-Chefin Sabine Schormann, Hessens Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) und Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) – allen voran Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) verantwortlich.

Zur Erinnerung: Kuratiert wird die documenta von dem indonesischen Kollektiv ruangrupa, dessen Mitglieder zum Teil offene Unterstützer des BDS sind oder sich nicht von der Boykottbewegung distanzieren mochten. Für ruangrupa-Mitglieder und einige von ihnen für die Ausstellung verpflichtete Künstler repräsentiert der jüdische Staat ein koloniales System »weißer Menschen«; Israel erfülle die Merkmale einer Apartheid, es praktiziere wie seinerzeit Südafrika die Trennung der einzelnen ethnischen Bevölkerungsgruppen, deshalb sei Israel allumfassend zu ächten.

Claudia Roth hat dem antisemitischen BDS Tür und Tor geöffnet.

Doch statt den neuen Bann jüdischer Künstler in Deutschland zu verurteilen, wurde die viel beschworene »Perspektive des globalen Südens« noch bis vergangene Woche auf höchster Ebene gefeiert und verteidigt. Claudia Roth versprach: »Das wird eine neue, sehr provokative, auflösende Form von Kunst und Kultur sein.« Man könne sich auf eine »produktive Debatte« freuen. »Ich bin auf die Konfrontation gespannt.«

Ruangrupa nahm sie vor Vorwürfen des Antisemitismus in Schutz. »Die Herkunft aus einem bestimmten Land sollte nicht vorab zu Verdächtigungen führen, möglicherweise antisemitisch zu sein«, sagte die Grünen-Politikerin. Das muslimisch geprägte Indonesien ist eines der Länder, die keine diplomatischen Beziehungen zu Israel unterhalten. »Das kann ich schlecht finden. Aber es kann nicht heißen, dass ein Künstler oder Kollektiv aus Indonesien deshalb per se verdächtig ist.«

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Dass jüdische Israelis schon im Vorfeld der documenta von ruangrupa systematisch gecancelt wurden, darauf ging Roth nicht ein. Dabei hatte unter anderem der Zentralrat der Juden bereits Ende April in einem Brandbrief an Roth den Umgang der Verantwortlichen mit dem Thema Antisemitismus kritisiert. »Gegen Antisemitismus helfen nur klare Bekenntnisse und noch viel mehr, entschlossenes politisches Handeln«, stellte Zentralratspräsident Josef Schuster damals klar. »Von dieser Verantwortung darf sich niemand - auch nicht im Namen der Kunstfreiheit - freisprechen.«

Doch auch danach blieb die oberste Kulturpolitikerin der Bundesrepublik, die sich von der wegweisenden Anti-BDS-Resolution des Bundestags im Jahr 2019 distanziert hatte, untätig.

Für wie naiv hält Roth die jüdische Öffentlichkeit?

Besonders bitter: Nach Bekanntwerden der judenfeindlichen Darstellungen reiht sich Claudia Roth jetzt plötzlich in die Phalanx jener ein, die ob des Judenhasses empört sind. Die Frage sei erlaubt: Für wie naiv hält Roth die jüdische Öffentlichkeit? Zuerst lässt sie es zu, dass Künstler mit erwiesenermaßen antisemitischem Weltbild die documenta kuratieren. Nun will sie überrascht von den antisemitischen Exzessen sein. Dabei ist es ganz simpel: Wer dem Antisemitismus des BDS Tür und Tor öffnet, der bekommt ihn auch. Im Zweifel auch in Form von widerlichen judenfeindlichen Schmähgemälden, neben denen die Wittenberger »Judensau« noch geradezu zurückhaltend wirkt.

Das Bekenntnis zu Israel und das Eintreten gegen jede Form von Antisemitismus gehört zur DNA der Bundesrepublik. Steuergelder dürfen in diesem Land niemals für lupenreinen Judenhass ausgegeben werden. Die documenta hat diesem Selbstverständnis eine schallende Ohrfeige verpasst. Es war die Aufgabe von Kulturministerin Roth, dies zu verhindern. Dabei ist sie krachend gescheitert.

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Entweder war Roth nicht in der Lage, Einfluss auf die sich lange abzeichnende Entwicklung zu nehmen. Oder sie konnte beziehungsweise wollte nicht verstehen, dass Judenhass eine elementare Herausforderung für unsere Demokratie darstellt. Beides disqualifiziert sie in höchstem Maße als Kulturstaatsministerin.

Für wen das Versprechen »Nie wieder Antisemitismus« keine wohlfeile Phrase ist, und davon ist bei der Bundesregierung ganz sicher auszugehen, der muss das Kulturstaatsministerium jemandem anvertrauen, der glaubhaft gegen Judenhass eintritt. Jemandem, der sein Amt mit Kompetenz und Würde ausübt. Claudia Roth hat mit ihrem Koschersiegel für die BDS-Ideologie weder das eine noch das andere an den Tag gelegt.

Der Autor ist Chef vom Dienst bei der Jüdischen Allgemeinen.

engel@juedische-allgemeine.de

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