Einfach mal ausreden lassen
Wenn Juden miteinander diskutieren, zumal über Dinge, die ihnen wichtig sind, geht es nicht gesittet zu. Da wird ins Wort gefallen, dazwischen gebrüllt, der Andere sarkastisch niedergemacht. Vielleicht auch deshalb legt die ukrainisch-schweizerische Künstlerin Marina Belobrovaja ihre Erkundung nach jüdischer Identität nicht konfrontativ sondern konsekutiv an: 49 Juden und Jüdinnen aus der Schweiz, Deutschland, Israel und der Ukraine äußern sich in kurzen, oft kontroversen Statements (»antisemitischer Jude«, »rassistischer Unsinn«, »hat keine Ahnung«, »typisch aschkenasisch« zu ihrem Jüdischsein, wobei ein Statement sich immer auf das vorhergehende bezieht. So entsteht eine Art DNA-Kette (daher der Titel) – und jeder kann ausreden. — Michael Wuliger
Marina Belobovaja: The DNA-Project. Eine künstlerische Erkundung. Bucher Verlag, Hohenems 2012, 192 S., 18,50 €
Krimi für Computerfreaks
Wahre Krimifans kommen um Stieg Larssons sogenannter Milleniums Trilogie (Verblendung, Verdammnis, Vergebung) nicht vorbei. Ein Journalist deckt eine Wirtschaftsschweinerei auf und ist dabei einer gezielt falsch gelegten Fährte auf den Leim gegangen. Um aus der Schusslinie zu geraten, kündigt Mikael Blomkvist bei seiner »Millenniums«-Redaktion und verdingt sich bei dem reichen Industriellen Henrik Vanger als Biograf. Seit 43 Jahren erhält dieser zu seinem Geburtstag eine Rose zugeschickt. Genauso lang ist auch seine Lieblingsnichte verschwunden. Was zunächst als harmlose Chronik einer Industriellen-Dynastie geplant ist, entwickelt sich zu einem atemberaubenden Kriminalfall, der ins Jahr 1958 zurückreicht. Bei seinen Recherchen erhält Mikael Blomkvist Unterstützung von der jungen wie undurchschaubaren Ermittlerin Lisbeth Salander, die – wie sich herausstellen soll – eine geniale Hackerin ist. Eine ebenso erschreckende wie faszinierende atemraubende Geschichte tut sich auf. Und ehe man nicht die 687 Seiten des ersten Bandes aus der Hand gelegt hat, will man eigentlich nicht aufhören zu lesen. Toller Krimi, interessante Charaktere und eine Sicht auf das world wide web, wie sie spannender nicht sein kann. Und wer die drei Taschenbücher um Mikael Blomkvist, Lisbeth Salander und Co nicht ins Reisegepäck bekommt – man kann sie auch als E-Book lesen! — Heide Sobotka
Stieg Larsson: Verblendung (Band 1). Verdammnis (Band 2). Vergebung (Band 3). München , TB Heyne, je 9,95 €
Liebe ist ein Mixtape
Laura hat Rob verlassen. Der Mittdreißiger, der in London einen Plattenladen besitzt, ist verzweifelt und möchte herausfinden, warum gerade ihm das passiert ist. Also beschließt er, sich mit seinen Top-Fünf-Verflossenen zu treffen. Doch diese Suche endet immer wieder bei einer: Laura. Mit High Fidelity hat Nick Hornby 1995 einen Beststeller veröffentlicht, der nicht nur durch seine schnelle Sprache, sondern auch durch seine Musik begeistert. Und ganz nebenbei führt der Ich-Erzähler noch in die hohe Kunst des Mix-Tape-Machens ein. Ein tolles Buch zum Lesen und irgendwie auch zum Hören. Für gewittrige oder verregnete Sommerabende gibt es das Buch auch als Film mit John Cusack als Rob und natürlich einem passenden Soundtrack. — Katrin Richter
Nick Hornby: High Fidelity. Verlag Droemer Knaur, München 1999, 336. S., 9,99 €
Geschwisterliebe
Diese Zwillingsbrüder könnten gegensätzlicher kaum sein: Simcha Meir, der Ältere, ist ein Eigenbrötler und Griesgram. Jakob Bunim hingegen ist bei allen Kinderspielen mit Leib und Seele dabei, mit seinem herzlichen Lachen steckt er andere an und ist bei allen beliebt — außer bei seinem Bruder. So nimmt die Geschichte, die Ende des 19. Jahrhundert im polnischen Lodz spielt, ihren Lauf: Simcha wird ein gerissener Geschäftsmann und Webereibesitzer, Jakob ein Lebemann, dem das Glück zufällt – und der Hass seines Bruders. Israel Joshua Singer (1893-1944) hat mit seinem Gesellschaftsroman Die Brüder Aschkenasi (1937) ein beeindruckendes Epos des polnischen Judentums geschrieben, das auch den heutigen Leser berührt und fesselt. Eine großartige Urlaubslektüre. — Tobias Kühn
Israel Joshua Singer: Die Brüder Aschkenasi. Hanser Verlag, München 1986, 504 Seiten, 23,50 €
Auf der Suche nach »Carl«
Wenn Frank Schulz und David Lynch gemeinsam ein Drehbuch verfassen würden, käme wahrscheinlich so etwas wie Sand dabei heraus. Diese durchtriebene Agentengeschichte, die im Marokko der frühen 70er-Jahre spielt – kurz nach dem Münchner Olympiaattentat –, vermag zwar aufgrund ihrer Düsternis die heitere Ferienstimmung zu trüben, was allerdings durch Komik, Sprachgewalt und schiere Spannung mehr als wett gemacht wird. Wie der Protagonist »Carl« um seine Identität und sein Gedächtnis ringt, ist auf der Handlungsebene genauso fesselnd zu lesen, wie die Art und Weise, auf die der krebskranke Autor gegen sein eigenes Sterben anschreibt. Übrigens: Wer »Carl« wirklich ist, bleibt im Verlauf der Geschichte kein Geheimnis. Man muss nur genau lesen. Lose Enden gibt es in Sand tatsächlich keine. — Ingo Way
Wolfgang Herrndorf: Sand. Rowohlt Verlag, Berlin 2011, 480 S., 19,95 €
Adieu, sorgloses Leben
Es soll nicht wenige Leser Leon de Winters geben, die schon einmal ernsthaft erwogen haben, Holländisch zu lernen, um seine Romane gleich nach ihrem Erscheinen lesen zu können. Für all jene gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte zuerst: Nach allem, was man hört, veröffentlicht de Winter in absehbarer Zeit kein neues Buch. Jetzt die gute Nachricht: De Winters Frau Jessica Durlacher schreibt ebenfalls – und ihr neuer Roman Der Sohn steht dem eigentlich unverwechselbaren Sound der Werke ihres Mannes in nichts nach. Mit derselben Mischung aus existentieller Wucht und Aberwitz erzählt auch Durlacher ihre Plots. In Der Sohn brechen über Sara und Jacob Silverstein von einem Tag auf den anderen Gewalt, Hass, Verlust, Schuld und Lügen herein. Schlagartig ist es vorbei, das sorglose Leben. Ein furioser, verstörender, temporeicher und anrührender Roman, den man garantiert nicht so schnell nicht aus der Hand legt. Der Sommer kann also kommen – und der nächste (de) Winter ruhig noch etwas warten. — Philipp Engel
Jessica Durlacher: Der Sohn. Diogenes Verlag, Zürich 2012, 416 S., 22,90 €
Sommer in Blau-Weiß
»In Bayern leben 60 Prozent Anarchisten und die wählen CSU«, heißt es in einem Film von Herbert Achternbusch. Wenn schon nicht zum Film, so doch zu dieser These gibt es das passende Buch. Egon Günther hat »bairische Notizen und Kolportagen« vorgelegt, und schon, dass er bairisch mit »i« schreibt, verweist auf die rebellische Geschichte des südlichen Bundeslandes. »König Ludwig I. ordnete am 20. Oktober 1825 an, die alte Schreibweise von Baiern durch die Einführung des Ypsilon zu veredeln«, lernt man in Günthers Buch, doch »die Proklamationen der Räterepublik richteten sich wieder an das ›bairische‹ Volk«. Mit großer Neugier und viel Bildung streift Günther durch die rebellische Geschichte des Freistaats: zeigt Flüchtlinge und Fluchthelfer, zeigt Revolutionäre und Widerständler und schafft so das Porträt eines eigentlich roten weiß-blauen Landes. Das richtige Buch für den Urlaub im Freistaat. — Martin Krauss
Egon Günther: Bayerische Enziane. Ein Heimatbuch. Edition Nautilus, Hamburg 2011, 252 Seiten, 19,90 €