Antisemitismus

»Diesmal sind die Juden nicht allein«

Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung von Baden-Württemberg Foto: Chris Hartung

Antisemitismus

»Diesmal sind die Juden nicht allein«

Michael Blume beschreibt in seinem neuen Buch die Rolle des Internets in Zeiten des zunehmenden Judenhasses

von Gerhard Haase-Hindenberg  06.06.2019 07:51 Uhr

Herr Blume, Sie zitieren die amerikanische Holocaust-Forscherin Deborah Lipstadt, wonach es »unglaublich schwer, wenn nicht sogar unmöglich« sei, das Wesen des Antisemitismus als »etwas zu erklären, das in sich irrational, wahnhaft und absurd ist«. Warum unternehmen Sie mit diesem Buch dennoch einen Erklärungsversuch?
Weil ich es wichtig finde, zu vermitteln, dass wir es nicht mit Theorien zu tun haben, sondern mit Mythen. Theorien kann man überprüfen, Mythen nicht. Antisemiten wollen glauben, dass eine böse Verschwörung von Juden und Freimaurern die Welt beherrscht.

Konsequenterweise lehnen Sie den Begriff der »Verschwörungstheorie« ab.
Ja, denn dieser Begriff würde die gesamte Diskussion im Bereich der Wissenschaft verorten, wie die Evolutions- oder die Relativitätstheorie. Den Antisemiten geht es jedoch nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse. Im Gegenteil – sie bestreiten solche. Man kann an positive Mythen glauben, wie an Gott, an die Liebe oder die Menschenrechte. Ebenso gut kann man daran glauben, dass böse Mächte die Welt regieren, also an negative Mythen wie Hass und Verschwörungen. In einem solchen Mythensystem wird man nicht etwa an die Weltverschwörung der Albaner glauben, sondern es kommt die der Juden dabei heraus. Das aber hat nichts mit einer wissenschaftlichen Theorie zu tun.

Wie sieht der ideale Leser Ihres Buches aus?
Vor Kurzem war ich am Abendgymnasium in Esslingen, wo ich auf Bildungsaufsteiger traf. Es waren Einheimische, die sich hier neben dem Beruf weiterbilden, aber auch Flüchtlinge, die ihr Abitur nachholen. Das sind die Leute, die ich erreichen möchte – Menschen, die sich ein Weltbild aufbauen und verstehen wollen, woher der Hass kommt und warum es eigentlich solche absurden Weltverschwörungsmythen gibt.

Sie haben sich mit einem relativ neuen Phänomen beschäftigt, nämlich mit der Rolle, die soziale Medien bei der Verbreitung eines neuen Antisemitismus spielen ...
Man muss sich klarmachen, dass neue Medien wie einst der Buchdruck, später Radio und Film und jetzt eben das Internet, den Antisemitismus zwar nicht hervorbringen, denn diese Mythen sind ja uralt. Die jeweils neuen Medien aber befeuern diese alten Verschwörungsmythen, bringen sie immer wieder neu aufs Tableau. Der Antisemitismus war nie verschwunden, aber durch das Internet radikalisiert er sich und kippt jetzt auf die Straße.

Ist das wirklich eine überraschende Entwicklung?
Für diejenigen, die sehen wollten, nicht. Jüdische Menschen haben in den europaweiten Befragungen durch die Europäische Agentur für Grundrechte in den Jahren 2012 und 2018 bereits davor gewarnt. Jetzt aber ist es für alle unübersehbar.

In der arabischen Welt suchen kluge Leute nach den Ursachen für die Rückständigkeit in Bildung und Wirtschaft. Die in Ihrem Buch geäußerte Ansicht aber, dass dabei der dort weit verbreitete Antisemitismus eine Rolle spielt, ist unter arabischen Intellektuellen kaum verbreitet ...
Mein letztes Buch hieß Islam in der Krise. Damals hatte ich im Irak ein humanitäres Sonderkontingent geleitet und traf auf solche gebildeten Muslime, die mir die Frage stellten: »Wir waren doch einmal eine Hochkultur, in Bagdad stand einst die größte Bibliothek der Welt. Was ist da eigentlich schiefgelaufen?« In diesem Buch nannte ich dann einige Fakten dafür. Da ist zunächst das Verbot des Buchdrucks ab 1485 und dann ab dem 19. Jahrhundert die Verstärkung des Antisemitismus. Statt sich über die Eigenschuld an dieser Fehlentwicklung Gedanken zu machen, wurden nun für Imperialismus und Kolonialismus die Juden und die Freimaurer verantwortlich gemacht. Und dann kam im 20. Jahrhundert der Fluch des Öls dazu. In Ölstaaten wie Saudi-Arabien, Iran, auch Russland und Venezuela, entstanden tyrannische und antisemitische Regime.

Nach Lektüre Ihres neuen Buches hat man den Eindruck, dass es vor dem Antisemitismus kein Entkommen gibt. Dennoch äußern Sie im abschließenden Kapitel die optimistische Sicht, dass die Ära Ihrer Enkel mit weniger Rassismus und Antisemitismus auskommen wird ...
Ohne die Hoffnung, dass Wissenschaft und Aufklärung einen positiven Effekt haben werden, müsste ich aufgeben. Wir hatten zwar jedes Mal mit der Einführung neuer Medien ein Anwachsen von Verschwörungsglauben, Antisemitismus und Rassismus. Etwas aber ist diesmal anders. Zum ersten Mal sind die jüdischen Gemeinden nicht mehr allein, es gibt Verbündete bis hinauf auf Regierungsebene, wo man sich die Bekämpfung des Antisemitismus zum Ziel gesetzt hat.

Mit dem Antisemitismusbeauftragten von Baden-Württemberg sprach Gerhard Haase-Hindenberg.

Michael Blume: »Warum der Antisemitismus uns alle bedroht: Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern«. Patmos, Ostfildern 2019, 208 S., 19 €

Debatte

Neue Leitlinie zum Umgang mit NS-Raubgut für Museen und Bibliotheken

In Ausstellungshäusern, Archiven und Bibliotheken, aber auch in deutschen Haushalten finden sich unzählige im Nationalsozialismus entzogene Kulturgüter. Eine neue Handreichung soll beim Umgang damit helfen

von Anne Mertens  27.11.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 27.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 27. November bis zum 3. Dezember

 27.11.2025

Fernsehen

Zieht Gil Ofarim ins Dschungelcamp? 

RTL kommentiert noch keine Namen - doch die Kandidaten-Gerüchte um Gil Ofarim und Simone Ballack sorgen schon jetzt für reichlich Gesprächsstoff

von Jonas-Erik Schmidt  27.11.2025

Rezension

Ein Feel-Good-Film voller kleiner Wunder

Ein Junge, der nicht laufen kann, Ärzte, die aufgeben, eine Mutter, die unbeirrt kämpft. »Mit Liebe und Chansons« erzählt mit Herz und Humor, wie Liebe jede Prognose überwindet

 27.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  27.11.2025

Kino

Echte Zumutung

Ronan Day-Lewis drehte mit seinem Vater Daniel als Hauptfigur. Ein bemühtes Regiedebüt über Gewalt und Missbrauch

von Maria Ossowski  27.11.2025

Das Ausmalbuch "From the river to the sea" in einer Buchhandlung in Zürich.

Meinung

Ausmalen gegen die Realität

Kinderbücher sollten nicht dazu instrumentalisiert werden, Kinder niederschwellig zu prägen

von Zsolt Balkanyi-Guery  27.11.2025

Hans-Jürgen Papier

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  26.11.2025