Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!
Wie bitte? Kann man ernsthaft einen Erzählband wie Ferdinand von Schirachs Nachmittage bedingungslos empfehlen, dessen Protagonisten so lebendig sind wie Grabsteine, dessen Geschichten unvergleichlich banal und dessen Pointen geradezu erschreckend grotesk sind?
Empfehlen, ja. Bedingungslos, nein. Es kommt ganz darauf an, in welcher Lebens- und Lektürephase Sie sich gerade befinden.
Bücher bedeuten mir alles. Theoretisch zumindest. Doch man kann das Lesen, das literarische Lesen wohlgemerkt, auch verlernen. Möglicherweise ist es wie bei einem Muskel, der mit den Jahren ohne Training erschlafft. So jedenfalls war es – Soziologen nennen es Autobahn des Lebens: Beruf, Kinder, die Eltern werden allmählich krank und benötigen Hilfe – in letzter Zeit bei mir.
Bis ich vor einigen Monaten Schirachs schmalen Band entdeckte. In der Vergangenheit hatte ich mit großer Freude mehrere Bücher von ihm gelesen. Keine große Literatur, aber doch Page Turner mit einem gewissen Anspruch. Mit derselben Erwartung griff ich nun zu diesem Buch – und wurde enttäuscht. Und las trotzdem gebannt weiter.
Warum eigentlich? Weil auch ein schlechter Ferdinand von Schirach – auch in seinen Nachmittagen wird wenig gesprochen, viel geraucht und noch viel mehr über die Sinnlosigkeit allen Seins reflektiert – immer noch eine halbwegs unterhaltsame und vor allem fast anstrengungslose Lektüre bedeutet, was viel mit Schirachs Stil zu tun hat. Auf die Frage, wie er seinen unverwechselbaren Lesestrom erzeuge, antwortete der Bestsellerautor im Interview mit Gero von Boehm einmal lakonisch: möglichst kurze Sätze – und alle Adjektive weglassen.
In jüngster Zeit ist es in der Literaturkritik in Mode gekommen, Essensmetaphern zu bemühen. Ein Buch von Ferdinand von Schirach, das hinter seinem übrigen Werk zurückbleibt, ist vielleicht am ehesten mit kalter Pizza vergleichbar, die nicht nicht schmecken kann.
Wenn Sie also eigentlich wissen, was gute Literatur ist, beruflich und privat aber zurzeit zu stark eingebunden sind, um den Zauberberg oder Thomas Bernhards fünfbändige Autobiografie zu lesen, dann sei Ihnen dieses Buch, zumindest zum Wiedereinstieg ins Lesen, unbedingt ans Herz gelegt. Mittlerweile lese ich übrigens auch wieder richtige Literatur. Immer nur Pizza ist auch keine Lösung. Philipp Peyman Engel
Ferdinand von Schirach: »Nachmittage«. btb, München 2022, 176 S., 13 €