Porträt

Dieser Mann will die Welt verändern

An ihm scheiden sich die Geister: Alain de Botton (49) Foto: imago/ZUMA Press

Gerade in Zeiten wie diesen, da die Welt in einem wütenden Fieber zu versinken scheint, besinnen sich viele Menschen auf die grundsätzlichen Fragen und damit auf die Philosophie. Da wird sogar Theodor W. Adornos Vorlesungsabschrift Aspekte des Rechtsradikalismus 50 Jahre später zum Bestseller. Und ein Mann wie Alain de Botton und dessen Idee von einer Philosophie für den Alltag wird zum globalen Hoffnungsträger.

Dabei ist de Botton eigentlich alles, was man von einem hauptberuflichen Philosophen nicht erwartet: Der in der Schweiz geborene Brite ist schnell, geschäftstüchtig, offen für Popkultur, medienaffin und beeindruckend leichtfüßig, selbst wenn es darum geht, die Gedankengebäude einer philosophisch härteren Nuss wie Derrida allgemeinverständlich zu skizzieren.

Außerdem hat er beachtlichen Unternehmergeist bewiesen und ein kleines Philosophie-Imperium namens »School of Life« erschaffen, was dazu geführt hat, dass der Berufsdenker der Legende nach nicht einen Cent aus dem geerbten Millionenfonds seines Vaters ausgeben musste. Alain de Botton ist wohl der meistbeschäftigte Philosoph unserer Zeit. Aber auch der, der am meisten polarisiert.

Seit zehn Jahren versucht de Botton, die Philosophie zurück auf die Straße zu bringen.

Am 20. Dezember wird der Mann mit dem freundlichen Blick und der angenehmen Stimme 50 Jahre alt. Zeit, Bilanz zu ziehen, könnte man meinen, nur tut er das eigentlich schon immer. Viel mehr als das halbe Jahrhundert, das de Botton gerade vollendet, interessiert ihn, was seine Schule des Lebens – mit Dependancen unter anderem in Tel Aviv, Mexiko-Stadt, Paris und Taipei –, die praxisorientierte Workshops zu verschiedenen Aspekten eines erfüllten Lebens in der modernen Zeit anbietet, eigentlich gebracht hat.

school of life Mit der School of Life versucht de Botton seit zehn Jahren, die Philosophie zurück auf die Straße zu bringen, mit Sätzen wie »Der einzige und größte Feind unserer Zufriedenheit in der heutigen Zeit ist wohl unser Glaube an die Perfektionierbarkeit«. Dieses Herunterbrechen führt immer wieder dazu, dass de Botton aus akademischen Kreisen mitunter heftig angefeindet wird. Was aber auch daran liegen könnte, dass sein YouTube-Kanal mehr als fünf Millionen Follower hat.

Über die letzten zehn Jahre jedenfalls und die Lehre daraus hat de Botton nun mal wieder ein Buch geschrieben, sein sechzehntes, das gerade auf Englisch erschienen ist: The School of Life. An Emotional Education. Die deutsche Übersetzung ist in Arbeit. Auf die Frage, ob er Schreibhemmungen überhaupt kenne, sagt der Autor, ohne mit der Wimper zu zucken: »Nein. Mich interessiert die Analyse der Gefühle und das Reflektieren über Kultur und Gesellschaft, darüber gibt es einfach immer etwas zu sagen. Ich wünschte, das Leben wäre nicht so kurz.«

TROST Angefangen mit dem professionellen Schreiben hat de Botton vor gut einem Vierteljahrhundert. Für den jungen Mann Anfang 20 ging es damals vor allem um die Liebe, und das in Romanform. Hangelt man sich an seinen Büchern entlang, lief es im zwischenmenschlichen Miteinander offensichtlich nicht so gut, denn 1997 und 2000 folgten Wie Proust Ihr Leben verändern kann und Trost der Philosophie. Tatsächlich hat der auf englischen Internaten, in Cambridge, dem King’s College und in Harvard ausgebildete Denker einmal über seine Jugend gesagt, er sei ein »unglaublich einsamer, sehr entfremdeter Teenager« gewesen.

Bei der Frage, was der Alain de Botton von heute dem Jungen von damals raten würde, geht es wieder um die Liebe: »Bitte sie um ein Rendezvous! Was ist das Schlimmste, das passieren kann?«

Nach der Liebe widmete sich de Botton dem Reisen, Angstzuständen, der Architektur, Flughäfen sowie den Themen Sex, Arbeit und Religion. In dieser Reihenfolge.

Nach der Liebe widmete sich de Botton dem Reisen, Angstzuständen, der Architektur, Flughäfen sowie den Themen Sex, Arbeit und Religion. In dieser Reihenfolge. Letzteres bedeutet de Botton persönlich allerdings wenig, obwohl sich die Familie bis auf den berühmten Talmudisten Rabbi Abraham Hiyya de Boton zurückführen lässt. Auch wenn er selbst »rausgeheiratet« habe, so de Botton, interessiere ihn aber doch »die lange Geschichte meiner Familie, die bis zurück auf die Iberische Halbinsel reicht. Gemäß einem DNA-Test bin ich zu 70 Prozent Sefarde!«

De Bottons Großmutter war übrigens die »Mata Hari Israels«, die israelisch-ägyptische Spionin Yolande Harmer, deren Name heute einen Platz in Jerusalem schmückt. »Ich bin stolz auf sie«, sagt Alain de Botton. »Vor allem, weil mein Vater sie offensichtlich sehr mochte.« Besagter Vater war der im Jahr 2000 verstorbene Kunstsammler Gilbert de Botton, zu dem der Sohn ein schwieriges Verhältnis hatte.

REDNER Neben seinen Büchern hat sich de Botton als Redner eine beachtliche Fangemeinde erarbeitet. Ob als TED-Talk oder im Rahmen von Veranstaltungen der School of Life, immer wieder nimmt sich der Philosoph lebenswichtige Fragen vor, die sich auch im neuen Buch wiederfinden: »Wie verstehe ich mich selbst, meine Beziehungen und meine Arbeit? Wie komme ich mit Misserfolgen klar und werde gelassener und belastbarer?«

Man glaubt es kaum, aber auch de Botton hat Erfahrung mit dem Scheitern. Das sagt er jedenfalls. »Aber die gute Nachricht ist, dass nur ein paar Dinge funktionieren müssen, damit es läuft.« Darüber hinaus würden ihm die gleichen Dinge helfen wie anderen Menschen auch: »ein langes heißes Bad, dunkle Schokolade und die Gesellschaft von Freunden«.

Aber kommen wir auf das wütende Fieber zurück, das wir alle mehr oder weniger intensiv spüren, sobald wir wieder einmal die Nachrichten lesen. Wie reagiert de Botton, der seinen Lesern und Zuhörern rät, »das Schöne und Gute zu feiern«, auf ein Ereignis wie das Attentat auf die Jüdische Gemeinde in Halle an Jom Kippur? »Es würde sich banal und billig anfühlen, wenn ich angesichts solch einer Tragödie irgendetwas, das einer Weisheit ähnelt, auch nur anbieten würde. Ich bin, wie jeder andere auch, zutiefst traurig über das Geschehene.«

Zu Halle philosophische Weisheiten anzubieten, käme ihm »banal und billig« vor.

Aber wie geht man mit Menschen um, die starke Anti-Haltungen wie Rassismus, Antisemitismus, Frauenhass, Homophobie vor sich hertragen? »Indem man begreift, dass diese Menschen unter ihrer Härte Angst verbergen«, sagt de Botton. Indem man begreift, dass ein Neonazi eine psychisch sehr, sehr labile Person ist. Mit ihm sprechen müsse man aber trotzdem. Wirklich Fiebersenkendes hat de Botton da also auch nicht zu bieten.

KUNST Bleibt die Frage, was das Ganze eigentlich soll: Seit Jahrzehnten und Jahrhunderten erschaffen Menschen Filme und Bücher, die sehr präzise davon berichten, was im menschlichen Verhalten falsch läuft. Nur ändern tut sich nichts. Da antwortet de Botton für seine Verhältnisse ziemlich hart: »Kunst hat nur sehr begrenzte Fähigkeiten, Änderungen hervorzubringen. Realer Wandel passiert durch Institutionen und Gewohnheiten.

Mit anderen Worten: Man muss schon eine Organisation oder Religion gründen, sich in der Politik engagieren oder ein Unternehmen aufbauen, wenn man wirklich etwas verändern will. Bücher darüber zu schreiben, wie die Welt sein sollte, ist die feige Variante.« Und deshalb ist ihm die School of Life auch wichtiger als der 50. Geburtstag. Immer in die Zukunft blicken.

Also, dann: Monsieur de Botton, wo sehen Sie sich in fünf Jahren? Und wo die Welt? »Ich hoffe, ich werde noch am Leben sein und es weiterhin lieben.« Und dann sagt der überzeugte Atheist: »Und ich bete dafür, dass Großbritannien wieder in der EU ist und den Euro eingeführt hat.«

Interview

»Wir stehen hinter jedem Film, aber nicht hinter jeder Aussage«

Das jüdische Filmfestival »Yesh!« in Zürich begeht diese Woche seine 10. Ausgabe, aber den Organisatoren ist kaum zum Feiern zumute. Ein Gespräch mit Festivaldirektor Michel Rappaport über den 7. Oktober und Filme, die man zeigen soll

von Nicole Dreyfus  07.11.2024

Kino

Die musikalische Vielfalt vor der Schoa

Ein Musikfilm der anderen Art startet zu einem symbolträchtigen Datum

von Eva Krafczyk  07.11.2024

Kultur

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 7. November bis zum 17. November

 07.11.2024

Schoa

»Warum hat er uns das nie erzählt?«

Was geschieht, wenn eine jüdische Familie ein lange verschlossenes Kapitel der Vergangenheit öffnet

von Mascha Malburg  07.11.2024

Kolumne

Mit Skibrille zur Vernissage

Warum sich das örtliche Kunstmuseum einer mittelgroßen Stadt in Deutschland kaum von der documenta unterscheidet

von Eugen El  07.11.2024

Kultur und Unterhaltung

Sehen, Hören, Hingehen

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 31. Oktober bis zum 7. November

 07.11.2024

Literatur

»Schwarze Listen sind barbarisch«

Der Schriftsteller Etgar Keret über Boykottaufrufe von Autoren gegen israelische Verlage, den Gaza-Krieg und einseitige Empathie

von Ayala Goldmann  07.11.2024

Sehen!

»I Dance, But My Heart Is Crying«

Die Plattenlabels Semer und Lukraphon veröffentlichten noch bis 1938 Musik von jüdischen Künstlern – davon erzählt ein neuer Kinofilm

von Daniel Urban  07.11.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Sukka-Fishing oder Sechs Stunden täglich auf dem Hometrainer

von Margalit Edelstein  06.11.2024