Georg Stefan Troller ist amüsiert, seine grauen Augen blitzen. Es ist Anfang November in Wien, wo er seinen 100. Geburtstag vorfeiert. Ganz nach Troller-Art mit neuem Buch und neuem Film. Der Himmel strahlt knallblau, das Metro-Kino ist voll mit Familie und Freunden, Wegbegleitern und Journalisten.
Das Buch heißt Meine ersten 100 Jahre und reiht sich in Trollers wunderbare autobiografische Menschenansichten. Der Dokumentarfilm Auslegung der Wirklichkeit von Ruth Rieser versucht, all die Fäden zu fassen, die Trollers Leben gesponnen hat – das Aufwachsen in Wien, die Flucht, die Rückkehr als G.I., der Journalist in Paris, der Filmemacher, und vor allem immer der Suchende. Der Mann, der mit seinen forschen, am Seelengrund fischenden Interviews berühmt geworden ist, wird nun fast täglich selbst ausgefragt. Verkehrte Welt.
Herr Troller, Sie haben einmal gesagt: »Ich stelle Fragen, damit mir keiner Fragen stellt.« Wie kommen Sie damit klar, dass Sie nun plötzlich andauernd antworten müssen?
Ich nehme es hin, weil ich weiß, dass Journalisten die Zahl 100 unwiderstehlich finden. Zu meinem 99. Geburtstag hat sich kein Aas gemeldet, zu meinem 101. wird sich auch niemand melden. Das ist wie im Lotto, diese Ziffer muss ich jetzt erfüllen!
Als Journalist hat Sie die Zahl 100 doch sicher auch fasziniert? Haben Sie nie jemanden zum 100. ausgefragt?
Ich empfand das immer als ein bisschen ungebührlich, dass man so alt wird. Aber jetzt auf einmal ist man da hineingeglitten, und zwar die letzten Jahre sehr schnell. Ja, das geht erstaunlich schnell!
Ihr neues Buch heißt »Meine ersten 100 Jahre«. Was steht für die nächsten 100 an?
Ich bin jetzt Kolumnist. In der »Literarischen Welt« schreibe ich jeden Monat das Porträt eines berühmten Autors, den ich gekannt habe. Ich bin schon bei Nummer fünf.
Worauf ist man mit 100 neugierig?
Ich bin jetzt nicht mehr so versessen darauf, neue Menschen kennenzulernen. Ich gehe ganz selten aus, weil das so große Mühe macht, ich lebe mein Leben im Schlafrock, wie Balzac. (lacht) Ich bin sehr zufrieden, mit alten Freunden über alte Dinge zu sprechen. Ich merke, wie ich mehr und mehr überblättere. Zeitungen, mit denen ich früher eine Stunde verbracht habe, sind jetzt nach zehn Minuten erschöpft.
Sind Sie neugierig auf den Tod?
Nein. Ich gehöre allen möglichen Gesellschaften an, die darauf aus sind, dass man einen sterben lässt und nicht übermäßig behandelt (holt seine Brieftasche heraus und zeigt einen Pass solch einer Organisation). Mein Vater sagte zu mir: »Geh doch in die bulgarische Ausstellung, anstatt hier an meinem Bett zu sitzen.« Ich war nicht interessiert an der bulgarischen Ausstellung, aber ich merkte, der will nicht ewig mit mir reden. Und ich ging und habe ihn nicht wiedergesehen. Das war nachher sein letztes Wort: »Geh doch in die bulgarische Ausstellung.« Typisch Vater. »Tu was Nützliches, mit mir hier herumzusitzen, ist nichts.« Er hasste es, bemitleidet zu werden. Er wollte geachtet werden und Herr Troller bleiben. Das ist irgendwie ein Beispiel.
Wenn Sie von heute aus betrachtet Ihrem zehnjährigen Selbst einen Rat geben könnten, welcher wäre das?
Hör auf zu glauben, dass die Welt sich um dich dreht.
Und dem 20-jährigen Georg?
Diese Ich-Bezogenheit und der Mangel an Kontaktfähigkeit war eine frühe Gegebenheit, die mich viele Freundschaften und Lebenszeit gekostet hat, weil ich immer dachte, ich schaffe alles allein. Ich würde mir den Ratschlag geben: »Denk mal an andere, nicht nur an dich, das würde dir weiterhelfen in deiner Karriere als Autor und Filmemacher.«
Dem 50-Jährigen?
Weiter so!
Die Chanson-Legende Edith Piaf haben Sie einst gefragt, was sie wäre, wenn nicht Sängerin. Was wäre Georg Stefan Troller, wenn nicht Autor und Filmemacher?
Die Wahl ist beschränkt. Es war eigentlich das Einzige, wozu ich irgendwelche Fähigkeiten habe. Vielleicht wäre ich Scriptwriter in Hollywood oder ein ewig erfolgloser Theaterautor geworden. Oder Kabarettist! Das hätte ich noch geschafft.
Vom gefeierten Schriftsteller W. Somerset Maugham wollten Sie wissen, ob die beste Kunst aus Schmerz entsteht. Tut sie das?
»Krankheit ist wohl der letzte Grund des ganzen Schöpferdrangs gewesen … «
Das ist Heinrich Heine.
Ja, und in diesem Vers bezieht Heine sich auf Gott! Gott hat aus Krankheit die Welt erschaffen. »Erschaffend konnte ich genesen, erschaffend wurde ich gesund.« Spricht Gott, nicht der Mensch, bei Heine. Wenn Gott, dann dürfen auch wir uns selbst, wie ich das immer nenne, am eigenen Schopf aus der Misere ziehen. Ich war bestimmt seelisch schwer angeschlagen durch den Antisemitismus meiner Umwelt schon als Kind, durch die darauffolgende Emigration, die mir beibrachte, dass es auf mich nicht ankam, dass niemand besonders daran interessiert war, dass der Schorschi Troller überlebt, das war schon ein ganz schöner Antrieb, doch überleben zu wollen.
Haben Sie es geschafft, sind Sie genesen?
Ich habe es geschafft, und ich halte es nach wie vor für ein Wunder. Als ich in Dachau diese ganzen Toten herumliegen sah, suchte ich nach meinem Gesicht. Da hätte ich liegen können. Und das Gefühl, das ich da jetzt in einer amerikanischen Uniform mit der Fotokamera in der Hand als Reporter mein Volk sehe … Dass ich unbeabsichtigt, nicht protegiert von Gott, als Zufall und dank der Tüchtigkeit meines Vaters überlebt habe, das kann ich nicht als Lebenszweck ansehen. Ich habe nicht überlebt, um als Zeuge weiterzuleben. Sondern dahinter stecken wahnsinnige Zufälle, die es mir erlaubt haben durchzuschlüpfen.
Aber ist der Zufall nicht vielleicht auch göttlich?
Ich kann es nicht finden. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte: Mein Cousin Ludwig war in Auschwitz. Dort gab es eine Baracke, wo Glücksspiele gespielt wurden, mit selbst gemachten Karten. Ludwig war 20 und immer wahnsinnig unternehmenslustig, er ging da hin, spielte und gewann. Preis war ein Fingerhut. Er steckte den Fingerhut in die Tasche, wurde von einem Kapo auf dem Lagerweg gestoppt, abgetastet, und der fand den Fingerhut. KZ-Insassen war es verboten, irgendetwas in ihren Taschen zu tragen. Der Fingerhut hat ihn das Leben gekostet. Der Kapo, ein Jude, hat ihn sofort angezeigt. Seine Mutter, Tante Stella, hat sich dem Kapo zu Füßen geworfen. Der Kapo hat gesagt: Gesetz ist Gesetz, Vorschrift ist Vorschrift, und mein Vetter kam in die Gaskammer. Wegen eines Fingerhuts. Wo willst du da von Vorsehung sprechen …
Nein, Sie haben recht! Aber haben Sie je an Gott geglaubt?
Ja, und ich bin noch immer gottgläubig. Einmal habe ich mich gefragt, was ich bin, und ich kam auf die Antwort Pantheist. Alles ist göttlich, wenn ich mir diese Welt anschaue, wenn ich mir meine Katze anschaue, das ist doch ein Wunderwerk, das kann nur ein Gott geschaffen haben, diese unendliche Vielfalt der Welt. Die hat sich nicht von selbst geschaffen, da steckt doch ein Wille hinter. Und das ist eben das Göttliche.
Wollten Sie je Rache nehmen?
Nein. Das ist das Eigentümliche, dieses Prinzip kenne ich nicht.
Mit dem Kultautor Georges Simenon haben Sie darüber gesprochen, dass ein Autor sich mit jedem Buch häutet. Sind Sie selbst nach mehr als 20 Büchern beim Kern angelangt?
Ja, das rein Gefühlsmäßige oder Instinktmäßige zu erforschen, wird bewusst gemacht und damit entschärft. Das ist die große Gefahr für den Autor oder Schriftsteller, dass er am Ende alles entschärft hat und nichts mehr zu sagen hat. Darum geht es, das Unbewusste bewusst zu machen. Wenn ich Kafka lese oder Walter Benjamin, weiß ich, was ich alles nicht geschafft habe … Was die geschafft haben, da kann man nur den Hut ziehen!
Könnte man sagen, dass Sie die Summe Ihrer Interviews sind?
Kann man. Am Ende läuft es immer darauf hinaus, inwieweit ist diese andere Person mir verwandt. Nicht dass sie so sein soll wie ich, sondern dass ich so sein will wie sie. Dass ich den anderen ihre Geheimnisse abgucken wollte. Wie schafft der das, so zu sich selbst zu stehen, während ich mich immer gefragt habe, wer ist es, zu dem ich da stehen soll? Der Verlust der Identität durch den Verlust der Umwelt ist ein typisches Zeichen der Emigration.
Aber heute wissen Sie, wer Sie sind.
Dazu lebt man ja. Aber dieser Verlust und der Verlust des Gefühls … Man ist als Kind, wenn man so aufwächst in einer Wiener Umwelt, von 100 Dingen fasziniert. Man liebt sie, sie sind Teil deiner Gefühlswelt geworden. Dann musst du weg, und damit verlierst du diese unzähligen Gefühle, die du hast, und du hast Gefühl, du bist ein gefühlloser Mensch geworden. Du hast keine Beziehung mehr zu irgendetwas. Das ist furchtbar, diese Angst, dass man keine Gefühle mehr hat. Die musste man wiederaufbauen. Und dieser berufsmäßige Zwang, mit anderen Menschen zu verkehren, hat auch deine Gefühlswelt wiederaufgebaut. Das Ganze war eine Selbstrettungsaktion.
Mit dem Schriftsteller, Journalisten und Filmemacher sprach Sophie Albers Ben Chamo.
Georg Stefan Troller wurde am 10. Dezember 1921 als Sohn eines jüdischen Pelzhändlers in Wien geboren. Mit 16 floh er vor den Nazis über Frankreich in die USA. Als Soldat der US-Armee kehrte er nach Europa zurück und sah das Konzentrationslager Dachau kurz nach dessen Befreiung. Nach dem Krieg studierte er in den USA, doch zog es ihn 1949 zurück nach Europa. Seitdem lebt er in Paris. Er arbeitete als Journalist für den RIAS und den SWR, 1971 wurde er Sonderkorrespondent des ZDF. Sein »Pariser Journal« und die Interviewreihe »Personenbeschreibung« haben ihn zur Fernseh-Legende gemacht. Troller war zweimal verheiratet und hat zwei Töchter.