Herr Perel, Sie mussten als Kind vor den Nazis fliehen, überlebten als Hitlerjunge in einem Internat die Schoa. Mehrmals waren Sie damals in Lebensgefahr – ein Stück Seife sollte Ihnen in den Waschräumen helfen, nicht als Jude als erkannt zu werden. Haben Sie diese Geschichte auch den Schülern, vor denen Sie gesprochen haben, erzählt?
Ja. Ich berichtete über die Maßnahmen, die ich beim gemeinsamen Duschen unternommen habe – ich war ja in einer Hitlerschule in Niedersachen. Ich nahm die Seife und rechnete mit Schaum, sodass keiner sehen konnte, dass ich beschnitten bin. Aber es war eine Einheitsseife, die nicht schäumte. Es waren schreckliche Momente. Heute kommt es mir beinahe lustig vor, aber damals war es nicht zum Lachen.
Wie haben die Schüler reagiert?
Sie sind immer begeistert. Sie hören eine echte Erzählung aus erster Quelle, authentisch, voller Wahrheit. Und das finden sie außergewöhnlich wichtig. Ich gebe ihnen gewisse Botschaften mit. Ich sage auch: Ab jetzt seid ihr ebenso Zeitzeugen. Gebt es weiter an eure Kinder und Kindeskinder. Diese Wahrheit darf nicht verschwinden. Das nehmen sie ernst und sind sehr betroffen. Ich hatte viele Schüler mit Tränen in den Augen.
Nehmen Sie immer derlei Reaktionen wahr?
Alle sind betroffen, das motiviert mich und gibt mir Kraft. Ich würde sagen, es ist zu meinem Lebensziel geworden, die Jugend zu warnen, weil ich mit den Erfahrungen meiner Vergangenheit gewisse Dinge rechtzeitig erkennen kann. Deshalb kann ich sie bitten, nicht wegzuschauen. Denn es fängt schon wieder so wie damals an.
Was meinen Sie damit, dass es wieder anfängt wie damals?
Die Neonazis marschieren wieder auf, ob es nun der NSU-Skandal, Pegida oder Anhänger ähnlicher Gruppen unter anderem Namen sind. Aber die Gefahr, die davon ausgeht, muss entlarvt werden.
Sie verfolgen aufmerksam, was in Deutschland passiert, obwohl Sie in Israel leben?
Ja, Deutschland bleibt mein Mutterland, und Israel wurde mein Vaterland. Ich wuchs in Peine in Niedersachsen auf. Mein Vater war Rabbiner, arbeitete aber später im Schuhgeschäft.
Sie werden im April 90 Jahre alt. Trotz Ihres Alters kommen Sie zweimal im Jahr nach Deutschland.
Ja, das ist mir sehr wichtig. Solange mich meine Füße tragen, mache ich das.
Nach der Schoa wollten Sie weg aus Deutschland.
Ja, ich wollte in kein anderes Land als nach Israel, um nie wieder als Minderheit leben zu müssen. Ich war aber kein Zionist.
Heute können Sie ihre alte Heimat unbefangen betreten?
Die Jugend ist nicht dafür verantwortlich, was damals geschah. Deshalb sind sie meine Adressaten, und dafür komme ich gerne nach Deutschland. Meine Geschichte ist auch ein kleiner Krimi, was für die Jugendlichen besonders interessant ist. Ich war damals zwischen 14 und 18 Jahre alt, so alt wie die Jugendlichen heute – das interessiert sie.
Ihr Vater hatte Ihnen auf den Weg gegeben, sich selbst und dem Judentum treu zu bleiben. Ihre Mutter sagte, dass Sie überleben sollen.
Das ist der Mittelpunkt meiner Erzählung. Zwei Botschaften, die nachher gegeneinander standen. Als ich gefragt wurde, ob ich Jude bin, folgte ich meiner Mutter und verneinte. Mein Vater wollte auch, dass ich lebe. Er dachte, mit dem Glauben würde er mir mehr Kräfte geben. Wir wissen aber heute, dass der Glaube bei den Nazis kein Gewicht hatte.
Tauschen Sie sich mit anderen Zeitzeugen aus?
Früher schon. Nun ist es nicht mehr möglich, da alle verstorben sind. Ich bin der Letzte. Auch von meinen ehemaligen Hitlerjugend-Kameraden lebt keiner mehr. Unser Jahrgang geht davon.
Wie kann man mit dieser Vergangenheit, der Zerrissenheit, als Jude die falsche Identität eines Hitlerjungen annehmen zu müssen, leben?
Man muss die Balance finden. Ich führte ein Doppelleben. Wenn man über den Holocaust redet, sagt man, die Juden waren die Opfer und die Deutschen die Täter. Ich war beides. In dem Moment, in dem ich eine Hitlerjugenduniform angezogen hatte, wurde ich mein Feind – ich musste mich selbst überleben. Und dann entstanden Schutzmechanismen. Man kommt aus solchen Jahren nicht unbeschädigt heraus. Kein Holocaust-Überlebender konnte ein normales Leben führen. Es ist alles überschattet. Das Buch zu schreiben, war für mich eine Therapie.
Mit dem Schoa-Überlebenden sprach Christine Schmitt.