Die Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden, das Deutsch-Amerikanische Institut und die Hochschule für Jüdische Studien (HfJS) in Heidelberg hatten zu einer Lesung des israelischen Schriftstellers David Grossman eingeladen. Vorausgegangen war am Nachmittag ein Workshop an der HfJS zur Einführung in das Werk von David Grossman mit der Literaturwissenschaftlerin Anat Feinberg.
Die Abendveranstaltung mit rund 250 Teilnehmern begann mit Auszügen aus dem Buch Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Das Zwiegespräch einer Frau mit ihrem Lebensgefährten beschreibt, wie sie dem Krieg zu entkommen versucht, als sich ihr gemeinsamer Sohn zum Militäreinsatz meldet. »Kinder kommen nach der Armee nicht wirklich zurück. Sie verlieren ihre Kindheit«, sagte Grossman im anschließenden Gespräch mit Anat Feinberg. Die Geschichte führe ins Herz der israelischen Gesellschaft, ein Leben mit Krieg, Verlust und Trauer. Ein Leben mit einer traumatischen Vergangenheit und einer zerbrechlichen Zukunft.
»Wir sind nicht sicher, ob wir eine Zukunft haben«, resümierte der 59-jährige Schriftsteller. Da sei immer diese unterschwellige, existenzielle Angst. Deshalb sei das Leben in Israel so intensiv: in den zwischenmenschlichen Beziehungen, der Spiritualität und Kreativität. »Wir sind wie eine kleine Kerze im Gewitter.« Allein die Erzählperspektive der Mutter gewähre den skeptischen Blick auf die Kriegsspiele der Männer, so der israelische Autor, weil Mütter von Natur aus einen direkteren Zugang zu ihren Kindern hätten und eher Fragen stellten. Dabei erinnerte er sich an die Geschichte aus dem Buch Genesis: Gott sei zu Abraham gekommen, nicht zu Sara, um den Sohn Isaak als Opfer einzufordern, wohl wissend, dass Sara das nicht zugelassen hätte.
Schechol Um den Verlust des eigenen Sohnes geht es in Grossmans jüngstem Buch Aus der Zeit fallen. Darin setzt er sich mit dem Tod seines zweiten Sohnes Uri auseinander, der 2006 im Libanon starb. Für die Trauer um ein verlorenes Kind gibt es im Hebräischen ein eigenes Wort: Schechol. Keine andere Sprache habe ein solches Wort, so Feinberg. Für sie sei das Buch eine »Topografie der Trauer«, in der Grossman erforsche, was jenseits des Lebens liege.
Es war das Schweigen, das Unaussprechliche, so der Autor, und die Klischees der Kondolenzschreiben, die ihn als Nichtgläubigen dazu antrieben, eigene Worte zu suchen – und an der »Schwelle zwischen Leben und Tod« zu kratzen. »Er ist tot, doch sein Tod ist nicht tot«, sagt er über seinen Sohn. Die Trauer, das Gedenken blieben lebendig. Nur die Kunst könne die Grenze zwischen beiden Welten überwinden. Dazu hat er eine Erzählform aus Prosa, Lyrik und Hörspiel gewählt mit Anlehnungen an die antike Tragödie. »Eine Form«, so Feinberg, »die die literarische Landschaft verändert hat.«
»Für mich ist es ein besonderer Abend«, sagte Doron Kiesel, Direktor der Bildungsabteilung. »David Grossman hat mich ein Leben lang geprägt. Er ist Orientierung in der Auseinandersetzung mit der israelischen Gegenwart.« Am Ende liest der Autor und Friedensaktivist eine Passage aus seinem Buch auf Hebräisch. Es ist der Klang der Sprache, die »Melodie seiner Worte«, wie ein Zuhörer bemerkt, die wirkt und nachhallt.