Psychologie

Die Wissenschaft vom Irrtum

Denkt langsam: Daniel Kahneman Foto: dpa

Psychologie

Die Wissenschaft vom Irrtum

Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman erklärt, warum uns die Intuition manchmal hinters Licht führt

von Harald Loch  23.10.2012 08:08 Uhr

Ein Nobelpreisträger ertappt uns beim Denken. Der 1934 in Tel Aviv geborene israelisch-amerikanische Psychologe Daniel Kahneman wurde vor zehn Jahren mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet. Jetzt hat er seine in Jerusalem zusammen mit dem früh verstorbenen Amos Tversky begonnenen, später in Kalifornien fortgesetzten eigenen Studien sowie den gegenwärtigen Forschungsstand zur Verhaltensökonomie zusammengefasst. Dass er dabei auf die in den Sozialwissenschaften übliche Fachterminologie weitgehend verzichtet, kommt der Lesbarkeit seines überzeugenden Buches sehr zugute.

Kahneman teilt die menschliche Gehirntätigkeit in »Schnelles Denken« und »Langsames Denken« ein, er nennt die beiden Funktionsweisen in seinem Buch »System 1« und »System 2«. Dabei geht es – kurz gesagt – um den Unterschied zwischen der spontanen, »automatischen« Sofortentscheidung des Gehirns und der nachdenkenden, kritischen Überlegung. Vor allem aber geht es um die dem menschlichen Willen weitgehend entzogene Vorentscheidung, die beim »Schnellen Denken« gefällt wird und die Entscheidungen des reflektierenden Gehirns tendenziös beeinflusst.

Treffergenauigkeit Anhand zahlloser von ihm selbst erforschten oder in der wissenschaftlichen Literatur beschriebenen Beispielen macht Kahneman deutlich, wie sehr unsere »vernünftigen« Entscheidungen von den vorweg getroffenen spontanen Blitz-Bewertungen unseres Denkens beeinflusst sind. Dabei räumt er dem »System 1«, also dem Schnellen Denken des Menschen, eine hohe Treffergenauigkeit ein – sonst gäbe es die menschliche Spezies wahrscheinlich gar nicht mehr. Aber ihn interessieren besonders die spontanen Denkfehler.

Eines seiner beliebtesten Beispiele ist der »Baseball-Fall«: »Nehmen wir folgende einfache Denkaufgabe. Versuchen Sie nicht, sie zu lösen, sondern vertrauen Sie Ihrer Intuition: Ein Schläger und ein Ball kosten 1,10 Dollar. Der Schläger kostet einen Dollar mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball? Ihnen fällt eine Zahl ein. Die Zahl ist selbstverständlich 10, nämlich 10 Cent.«

Diese leichte Denkaufgabe legt eine Antwort nahe, die intuitiv verlockend, aber falsch ist. Denn wenn der Ball 10 Cent kostet, würden die Gesamtkosten 1,20 Dollar betragen (10 Cent für den Ball und einen Dollar mehr, also 1,10 Dollar, für den Schläger – ergibt zusammen 1,20 Dollar). Wenn man aus dem »System 1« zum vernünftigen Langsamen Denken übergeht, gelangt jeder zu dem richtigen Ergebnis – nämlich, dass der Ball 5 Cent kostet.

Korrektur Das Schnelle Denken lässt sich also korrigieren. Aber wenn man es nicht mit dem System 2 überprüft, bleibt der Fehler in der Welt. Da wir aber aufgrund unserer Erfahrung und der Bedingungen unserer Existenz der übergroßen Mehrheit der – meist ja »richtigen« – Spontanbewertungen des Schnellen Denkens vertrauen und wohl auch vertrauen müssen, kommen wir nicht bei allen falschen schnellen Denkergebnissen auf die Idee, sie intelligent zu überprüfen.

Das ist die Botschaft des Buches: Wie viele falsche Ergebnisse des von unserem Willen unabhängigen Denkens bleiben unkontrolliert bestehen und können Fehler mit verheerenden Folgen verursachen? Kahneman hat seine Untersuchungen besonders auf dem Gebiet der Wirtschaft angestellt und kann auf grobe Fehlentscheidungen verweisen, die heute allenthalben Erstaunen auslösen. Gehört das »Zocken« – vor allem mit fremdem Geld – nicht zum »System1«?

Der Autor diskutiert auch den umgekehrten Fall: Unsere Intuition gibt uns ein schnelles, wahrscheinlich richtiges Urteil, aber wir dürfen es aus normativen Gründen nicht dabei belassen. Vor allem im sozialen Bereich gibt es – und Kahneman begrüßt das ausdrücklich – Schutzregeln, die mancher spontan getroffenen, zutreffenden Einschätzung eines Mitmenschen die Verwirklichung untersagen. Unser Menschenbild verbietet oder erschwert zumindest die Diskriminierung und damit manche Entscheidung auf der Grundlage des Schnellen Denkens.

Daniel Kahneman: »Schnelles Denken, Langsames Denken«. Siedler, München 2012, 622 S., 26,99 €

München

Fritz-Neuland-Gedächtnispreis gegen Antisemitismus erstmals verliehen

Als Anwalt stand Fritz Neuland in der NS-Zeit anderen Juden bei. In München wird ein nach ihm benannter Preis erstmals verliehen: an Polizisten und Juristen, die sich gegen Antisemitismus einsetzen

von Barbara Just  30.06.2025

Forschung

Digitales Archiv zu jüdischen Autoren in der NS-Zeit

Das Portal umfasst den Angaben zufolge derzeit rund eine Million gespeicherte Informationen

 30.06.2025

Medien

»Ostküsten-Geldadel«: Kontroverse um Holger Friedrich

Der Verleger der »Berliner Zeitung« irritiert mit seiner Wortwahl in Bezug auf den jüdischen Weltbühne-Gründer-Enkel Nicholas Jacobsohn. Kritiker sehen darin einen antisemitischen Code

von Ralf Balke  30.06.2025

Berlin

Mehr Bundesmittel für Jüdisches Museum

Kulturstaatsminister Wolfram Weimer betonte, sichtbares jüdisches Leben gehöre zur Mitte der Gesellschaft

 30.06.2025

Großbritannien

Nach Anti-Israel-Eklat bei Glastonbury: BBC gibt Fehler zu

Ein Musiker wünscht während einer BBC-Übertragung dem israelischen Militär von der Festival-Bühne aus den Tod. Die Sendung läuft weiter. Erst auf wachsenden Druck hin entschuldigt sich die BBC

 30.06.2025

Glastonbury-Festival

Anti-Israel-Parolen: Britischer Premier fordert Erklärung

Ein Musiker beim Glastonbury-Festival in England fordert die Menge dazu auf, Israels Militär den Tod zu wünschen. Der Vorfall zieht weite Kreise

 30.06.2025

Essay

Die nützlichen Idioten der Hamas

Maxim Biller und der Eklat um seinen gelöschten Text bei der »ZEIT«: Ein Gast-Kommentar von »WELT«-Herausgeber Ulf Poschardt

 29.06.2025

Glastonbury

Polizei prüft Videos der Festival-Auftritte auf strafrechtliche Relevanz

Festival-Organisatoren: Parolen von Bob Vylan hätten eine Grenze überschritten

 29.06.2025

Literatur

Österreicherin Natascha Gangl gewinnt Bachmann-Preis 2025

Ihr poetischer Text »DA STA« begibt sich auf die Suche nach den versteckten Spuren eines NS-Verbrechens

 29.06.2025