Wer meint, dass es in der deutschen Wehrmacht keinerlei Handlungsspielräume zur Rettung von Juden gegeben hätte, liege falsch, sagt der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette. Er hat zahlreiche Beispiele des Ungehorsams in Hitlers Armee gefunden. Mit 20 Millionen Uniformierten war jeder vierte Deutsche aktiver Kriegsteilnehmer, doch längst nicht jeder sei ein williger Knecht der Naziideologie gewesen. Hilfen und Rettungsversuche für Juden fanden so gut wie nie an der Front, sondern meist im Hinterland statt. Handlungsspielräume dafür gab es auch im System von Befehl und Gehorsam genug. Den Beteiligen war die Gefahr, in die sie sich begaben, oft gar nicht bewusst. Helfer handelten in der Regel ohne Netzwerk, meist klug und listig, kaum spontan, sondern eher nach langer ethischer Überlegung, sagt Wolfram Wette auf der dritten Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung »Helfer, Retter und Netzwerker des Widerstands« Ende Januar in Berlin – veranstaltet von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand.
Es habe während des gesamten Krieges zahlreiche Deserteure und Exekutionsverweigerer gegeben, so Wette. So sei im Oktober 1941 drei Kompaniechefs an der Ostfront der Befehl erteilt worden, die jüdische Bevölkerung im Befehlsbereich zu liquidieren. Zwei hätten den Schießbefehl gegeben, der dritte aber weigerte sich, auf Zivilisten schießen zu lassen. Er wurde weder seines Amtes enthoben noch stand er vor einem Kriegsgericht. Seine Vorgesetzten rügten ihn lediglich wegen seiner »Weichheit«. Auch weigerten sich Mitglieder eines Reservepolizeibataillons in Polen, sich an der Hinrichtung jüdischer Bürger zu beteiligen. »Wer bei der Erschießung nicht mitmachen wollte, konnte aus der Reihe treten und wurde schließlich ohne weitere Sanktionen zum Dienst in die Heimat zurückgeschickt«, berichtet Wette. Andere Soldaten verweigerten sich mit Hinweis auf das Völkerrecht.
Menschenwürde Ein exemplarischer Fall ist für Wette der deutsche Offizier Wilm Hosenfeld, im Zivilberuf Lehrer, der bereits im September 1939 als Feldwebel die ersten Tage des Vernichtungskriegs miterlebte. »Er empörte sich gegen die menschenunwürdige Behandlung von Juden und Polen. Als Herzenspatriot hat er die Achtung vor den Menschen nicht verloren. In einzelnen Fällen ließ er die Gefangenen zu ihren Familien zurückkehren. Der deutsche Offizier begann die polnische Sprache zu lernen, feierte mit Polen gemeinsam die religiösen Feste«, berichtet Wette. 1944 versteckte er einen polnischen Priester in den Sportstätten von Warschau, für die er zuständig war. Auch den Pianisten Wladyslaw Spielmann rettete er. Durch Roman Polanskis Film »Der Pianist« wurde diese Episode einem Weltpublikum bekannt. Gegenüber seinen Kameraden hat Hosenfeld von seinen Überzeugungen jedoch nie gesprochen. »Kameradschaft hat mit Freundschaft und Humanismus nichts zu tun, es ist eine militärische Kategorie«, sagt Wette.
Barbara Schieb, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Berliner Gedenkstätte Stille Helden, sagt, dass viele der Helfer bis heute gar nicht bekannt seien. »Wenn einigen Juden von 20 Menschen geholfen wurde, so wurden nach geglückter Rettung nur einzelne bekannt, denn oftmals kannten die Opfer die Namen nicht«, sagt Schieb. Bis heute sei es trotz offener Archive eine Puzzlearbeit, aus kleinsten Informationen die Biografien der Helfer zu rekonstruieren. Die Wege der »U-Boote« genannten untergetauchten Opfer von einem Helfer zum nächsten seien höchst individuell. »Die Bandbreite der Helfer ist groß, von Lumpensammlern bis Diplomaten, Christen, Kommunisten, Humanisten. Pauschalbeschreibungen sind unnütz, jeder Fall muss für sich betrachtet werden«, so Schieb.
stimmung Dennis Riffel, wissenschaftlicher Referent bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. in Berlin, beklagt, dass viele Helfer auch nach 1945 nie über ihr Engagement sprachen. Nicht wenige lebten im Nachkriegsdeutschland in sozialer Not. Nur wenige waren entschädigungsberechtigt, da sie unter den Nazis nicht politisch oder rassistisch verfolgt waren und sie so keinen nachweisbaren Schaden anmelden konnten. Die Stimmung in der deutschen Bevölkerung sei lange Zeit nicht so gewesen, dass man sich mit seiner Hilfe für Juden brüsten konnte. Militärischer Widerstand und Desertion galten als Vaterlandsverrat.
Die Jüdische Gemeinde zu Berlin erhob als erste politisch relevante Kraft die Forderung, an diese Helfer zu erinnern und wenigstens den Ärmsten eine finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Damit begann die Ehrungsinitative »Unbesungene Helden« des Berliner Senats von 1958 bis 1966. Von den über 1.800 Personen, die sich meldeten und sich einem komplizierten Überprüfungsverfahren unterziehen mussten, wurden nur rund 760 ausgezeichnet. Fragwürdig erscheint es heute, dass Pfarrer und Fürsorger nicht geehrt wurden, weil ihr Verhalten als berufsbedingt selbstverständlich angesehen wurde. Postume Ehrungen waren ausgeschlossen. Und auch Kommunisten wurden bei der Ehrung grundsätzlich nicht bedacht. Helfer mit Vorstrafen galten als ehrenrührig, ohne nach dem Grund der Strafe zu fragen. Eine Helferin zum Beispiel war Prostituierte, für den Senat ein Ausschlusskriterium, für die israelische Gedenkstätte Yad Vashem nicht.
Verdienstkreuz Trotz allem sei die Ehrungsinitiative des Berliner Senats der bundesdeutschen Gedenkkultur der 50er- und 60er-Jahre weit voraus gewesen, meint Riffel. Die Bundesregierung habe erst in den 70er-Jahren damit begonnen, Bundesverdienstkreuze und finanzielle Unterstützung für Helfer zu gewähren. Nur allmählich setzte sich ein neuer Heldenbegriff der Widerständler und Helfer als Gegenpol zu den Verbrechern der NS-Zeit durch.