Jubiläum

Die Wiesn und ihre jüdischen Spuren

Teilnehmer des Trachtenumzugs ziehen durch die Innenstadt. Die Wiesn findet vom 21. September bis 6. Oktober 2024 statt. Foto: picture alliance/dpa

»Mein Konzert hat müssen verschoben werden des Oktoberfestes wegen. Wenn Ihr diesen Brief empfangen habt, bin ich auf der Theresienwiese mit 80.000 anderen Leuten zusammen.« Eindeutige Prioritäten wurden im bierseligen München schon immer gesetzt, auch wenn Felix Mendelssohn Bartholdy in der Stadt war.

Der Leipziger Komponist und Dirigent wurde ebenfalls recht widerstandslos mitgerissen in den Strudel des Münchner Oktoberfestes, das seit Jahrzehnten, den verschlungenen Denkwegen voralpenländischer Logik folgend, bereits im September beginnt.

Viele Jahre später, im Jahr 1929, schreibt Erika Mann, Tochter von Katia und Thomas Mann: »Die Festwiese, die größte, glaub’ ich, der Welt, ist herrlich anzuschauen, alle Münchner sind lustig, diese Stadt ist wie gemacht für Feste; feiert sie, zeigt sie ihr wahres Gesicht.«

Pferderennen Tatsächlich begann das krachlederne Massenvergnügen mit Maßkrugstemmen, Rummelplatz und lautem, möglichst unmelodischem Absingen möglichst inhaltsfreier Lieder, als Pferderennen. Im Herbst 1810 fand das Fest der Sauffreundschaft zum ersten Mal statt. Die Residenzstadt war trunken vor Freude ob der Hochzeit des bayerischen Kronprinzen Ludwig mit Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen. Beendet wurde das Jubilieren mit einem von der Münchner Bürgerwehr organisierten Pferderennen. Das artete zum großen Volksfest aus auf einem unbebauten, ebenen, also für die Reiterei gut geeigneten Terrain, das damals noch vor den Stadttoren lag.

Im Jahr darauf wiederholt, war das Fest auf dem freien Feld, das der Braut zu Ehren Theresienwiese genannt wurde, aus dem alkoholischen Gedächtnis der Stadt bald nicht mehr wegzudenken. Und das seit mittlerweile 200 Jahren. Doch die Farben Weiß und Blau stehen auch für Jüdisches.

Kostüm Vor 100 Jahren, zum Jubiläumsoktoberfest 1910, stattete die Trachten- und Stofffirma der aus Westfalen nach Bayern gezogenen Gebrüder Wallach den gesamten historischen Trachtenfestzug mit Kostümen aus. 99 Jahre lang gehörte das Wallachsche Geschäft in der Residenzstadt quasi zum Inventar der Stadt, 2004 schloss es. Im geschnitzten Türstock ist bis heute von Tracht und Pracht zu lesen. Denkwürdigerweise nahm der Umsatz der Firma nach dem 30. Januar 1933 zu, so dass Moritz Wallach und seine Ehefrau noch ein paar Jahre in München ausharrten. 1937 war der Druck zu verkaufen schließlich so stark geworden, dass Wallach einen Interessenten finden musste.

Doch der mögliche Käufer wollte das auf mehr als 400.000 Reichsmark geschätzte Unternehmen für diese Summe keinesfalls übernehmen. So wurde der Wert gutachterlich immer weiter nach unten gerechnet. »Endlich«, so Wallach im Jahre 1961, »am 1. März 1938 wurden 110.000 Reichsmark bezahlt, die restlos darauf gingen, Steuern, entsprechend der wirklichen Bestandsaufnahme, Juden- und Reichsfluchtsteuerabgabe.« Die ökonomische Bilanz von 40 Jahren in München, in denen die Familie Wallach so prominent wie über die Stadtgrenzen hinaus bekannt war, belief sich am Ende auf genau 20 Reichsmark.

Beleuchtung 1886 meldete das Centralblatt für Elektrotechnik einen technischen Quantensprung: »Während des Oktoberfestes war die Festwiese erstmalig mit 12 Bogenlichtern von J. Einstein & Cie. beleuchtet.« Diese Firma gehörte Albert Einsteins Vater und dessen Bruder. Die Geschäfte liefen gut: Brauereien orderten Elektroanlagen, und das Krankenhaus rechts der Isar bestellte seine Beleuchtungsanlage.

Der Auftrag im Herbst 1886, die »Wiesn« zu elektrifizieren, war, werbetechnisch nicht hoch genug einzuschätzen. Was aber wenig daran änderte, dass das Unternehmen 1892 vor dem Bankrott stand und die Einsteins mitsamt ihrer Firma nach Oberitalien zogen. Dort war zwei Jahre später dann endgültig Schluss: Die Brüder des großen Physikers hatten im technologischen Wettrennen zwischen Gleich- und Wechselstrom auf Ersteren gesetzt – und den Kürzeren gezogen.

Antisemitismus Das Oktoberfestfeiern und -saufen spülte auch so manchen manifesten Antisemitismus hoch. So erinnerte sich Martin Feuchtwanger, ein Neffe des Schriftstellers Louis Feuchtwanger, an ein Erlebnis auf der Festwiese einige Jahre vor 1933: »Vierzig, fünfzig Personen saßen an jedem Tisch, einer umarmte den anderen, die Bierseligkeit erfüllte alle Herzen. Auch Onkel Louis war lustig, sang und schwang den Bierkrug.

Dann taucht ein junger, betrunkener Mann auf, der Louis Feuchtwanger auf die Schulter schlägt und ausruft: ›Bist auch da, alter Jud mit der krummen Nas, komm her, Prosit!‹ Der Onkel verfärbte sich, er war so tief erschrocken, daß selbst der Besoffene nüchtern wurde und stotterte: ›Was hast denn? Ich hab dir doch nichts getan.‹ Louis Feuchtwanger kriegte sich nicht mehr ein und schimpfte: ›So eine Gemeinheit, bodenlose Gemeinheit, einen Jud zu beschimpfen auf der Oktoberwiese, ins Gefängnis müßte man den Kerl stecken.‹ Der Versuch einer Entschuldigung – ›Geh, sei doch nicht so fad, ich hab’s doch nicht bös’ gemeint, geh her, stoßen wir an zusammen‹ – schlug fehl. Onkel Louis blieb verstört, und auch wir Kinder waren getroffen, wir brachen auf, gingen nach Hause.«

Zum 200. Jubiläum in diesem Jahr dürfte man am Auftakttag auf
der Theresienwiese kaum Juden sehen. Denn wenn Münchens Oberbürgermeister Christian Ude am 17. September seine, wie er stets und gern verkündet, erklärtermaßen wichtigste Amtshandlung des Jahres durchführt und sein »O’zapft is!« den dürstenden und feierwütigen Massen entgegenschallt, ist Jom Kippur.

Hinweis der Redaktion: Dieser Text wurde erstmals 2010 veröffentlicht.

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