Interview

»Die Weizenfelder von Sderot bedeuteten Freiheit«

Die Schriftstellerin Ady Kaslasy-Way lebt mit ihrer Familie in Berlin. Foto: Rolf Walter/xpress.berlin

Frau Kaslasy-Way, Sie leben in Berlin und sind in Sderot aufgewachsen – der Stadt im Süden Israels, die seit vielen Jahren unter Raketenbeschuss durch die Hamas in Gaza leidet. Ihre Eltern leben in Sderot. Wie geht es ihnen?
Sie sitzen seit Samstagmorgen im Bunker. Auch jetzt noch (Anmerkung der Red.: vor Redaktionsschluss am Dienstag). In das Viertel, wo sie leben, sind Terroristen eingedrungen. Mein Vater hat vom Hinterhof aus Schüsse gehört. Zu seinem Glück war das erst Samstagabend, und israelische Polizisten und Soldaten waren inzwischen eingetroffen. Aber die ersten Stunden des Angriffs waren viele Menschen in Sderot und in der näheren Umgebung des Gaza­streifens auf sich allein gestellt.

Sie sind in engem Kontakt …
Ja, aber im Haus meiner Eltern fällt wegen der Kämpfe immer wieder der Strom aus. Sie können ihr Handy nicht jederzeit laden und sind nicht immer erreichbar. Kurz vor Beginn unseres Interviews ist eine Rakete direkt in einem Haus in Sderot eingeschlagen. Diese Momente, bis meine Eltern in unserer Familien-WhatsApp-Gruppe antworten oder ans Telefon gehen, sind sehr beängstigend. Denn es kann jeden Moment passieren. Wir sind im Süden Israels an diesen Zustand schon 20 Jahre gewöhnt, dass mit Raketen auf uns geschossen wird. Aber was jetzt geschieht, ist wirklich ein Schlag – dass Terroristen in Privathäuser und sogar in Bunker eindringen, Menschen dort herauszerren, sie ermorden oder entführen. Zivilisten, Kleinkinder, Babys. Die Bilder, die ich in den vergangenen Tagen gesehen habe, haben mein Leben verändert. Es ist nicht mehr dasselbe wie vorher.

Kennen Sie Menschen, die entführt wurden?
Der Vater einer Schulfreundin von mir aus dem Gymnasium wurde entführt, er lebt im Kibbuz Beʼeri. Ein enger Freund von mir, sein Schwiegervater und sein Neffe sind verschwunden – niemand weiß, wo sie sind. Ich kenne Situationen der Bedrohung seit meiner Kindheit. Aber die Angst, dass Menschen in ihrem eigenen Haus ermordet werden, ist eine neue Realität. Ich hatte schon während meiner Schulzeit, aber auch hier in Berlin immer wieder Albträume, in denen ich entführt werde. Nach Gaza. Jetzt ist dieser Albtraum für viele Menschen Realität geworden, und das ist sehr schwer zu verkraften. Ich habe mir immer nach dem Aufwachen gesagt, wenn ich so etwas geträumt hatte: Das ist nicht wahr, so schlimm kann es nicht werden. Aber so ist es jetzt.

Können Sie hin und wieder abschalten?
Ich kann das Telefon nicht aus der Hand legen. Ich weiß, dass es mir nicht guttut, aber ich kann es nicht ändern. Ich muss meine Familie und meine Freunde wenigstens aus der Ferne unterstützen. Das bin ich ihnen schuldig.

Sie haben schon als Kind Raketenangriffe erlebt, eine Schulfreundin von Ihnen wurde mit 17 Jahren getötet …
Mir wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, wegen der Erfahrungen in meiner Kindheit und einer Vergewaltigung als 18-Jährige. Ich habe eine Therapie gemacht und ein Buch über meine Erfahrungen geschrieben. Diese Tage jetzt sind sehr herausfordernd für mich. Ich schaffe es, stark zu bleiben, obwohl ich immer wieder anfange zu weinen, wenn ich meinen zweijährigen Sohn sehe und daran denke, was Kinder in seinem Alter in Israel jetzt durchmachen müssen.

Vor wenigen Wochen ist Ihr Buch »BeSadot Chita« (»Weizenfelder«) auf Hebräisch erschienen. Wann haben Sie sich entschlossen, es zu schreiben?
Ich bin vor einigen Jahren nach Berlin gezogen, um mit meinem jetzigen Mann zusammenzuleben. Nachdem mein Sohn geboren wurde, habe ich ein Seminar im Internet mitgemacht, um mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Dann habe ich mich an die Weizenfelder hinter dem früheren Haus meiner Eltern erinnert. Ich habe dort viele wunderbare Stunden verbracht und auf den Feldern Gedichte geschrieben. Als Neunjährige habe ich einen nationalen Gedichtwettbewerb für Kinder in Israel gewonnen und jede Woche ein Gedicht in der Regionalzeitung von Sderot veröffentlicht. Später war ich dort auch Journalistin, inzwischen habe ich erste Texte in der israelischen Zeitung »Haaretz« veröffentlicht. Schreiben war immer ein wichtiger Teil meines Lebens, aber wer ein Trauma erlebt hat, verliert seine Stimme und das Selbstvertrauen. Ein Umzug in ein fremdes Land macht es nicht einfacher. Nach dem Seminar habe ich angefangen, wieder Gedichte zu schreiben und sie auf Facebook zu veröffentlichen. Beim ersten Mal war ich so aufgeregt, dass ich gezittert habe, als ich auf »Post teilen« drückte – vor lauter Angst, was die Leute sagen würden. Einige Wochen danach habe ich einen einstündigen Schreibworkshop gebucht, und mir sind zwei Szenen eingefallen, die in meinem Buch vorkommen. Eine davon war die Panikattacke in einem Park in Berlin-Mitte, während Kinder in meiner Nähe im Sandkasten spielten. Am nächsten Morgen habe ich angefangen zu schreiben – und vier Monate lang nicht wieder aufgehört.

Ihr Buch verhandelt schwere Themen, aber es liest sich leicht. Der Stil ist spannend, jedes Kapitel eröffnet eine neue Welt. Haben Sie es absichtlich so aufgebaut?
Ich hatte einen Mentor, Nevo Rozi, der in Israel mehrere Bestseller herausgebracht hat. Er war nicht mein Lektor, aber er hat mich beim Schreiben begleitet. Ich habe den Aufbau des Buchs nicht geplant, es hat sich so ergeben, ich bin sehr frei beim Schrei­ben. Wenn es spannend ist, liegt es wohl daran, dass mein Leben interessant war.

Sie konnten Ihre Traumata verdrängen, bis sie in Berlin aufgebrochen sind. Warum?
Direkt nach der Vergewaltigung wurde ich zur Armee eingezogen, und es schien mir leichter, zu verdrängen. Dieses »Weitermachen, trotz allem« ist in Israel sehr verbreitet, und außerdem dachte ich, dass andere Menschen viel größere Probleme haben als ich. Aber ein Trauma wird nur schlimmer, wenn man es verdrängt. Und gerade die Ruhe, die »europäische Routine« hat mich entsetzt – denn ich habe auf einmal gemerkt, dass es ein anderes Leben gibt. Dass Kinder im Sandkasten spielen können, ohne Angst vor einer Rakete zu haben, die auf sie fallen könnte. Diese Panikattacke war schrecklich, aber ein sehr wichtiger Moment für mich.

Über posttraumatische Belastungsstörungen gibt es viele Vorurteile. Was wollen Sie Ihren Lesern vermitteln?
Ich hatte jahrelang Albträume – und auch Flashbacks, aber ich wusste nicht einmal, dass es welche sind. Denn in den Medien wird oft irreführend über Flashbacks berichtet. Man denkt immer an den Soldaten, der einen Kriegsschock erleidet und Bilder von Kampfszenen vor Augen sieht. Aber ich sehe nie eine Rakete, die auf mich fällt, oder meinen Vergewaltiger. Ein Flashback kann auch einfach ein Gefühl der Gefahr sein.

Hat ganz Israel in den vergangenen Jahren ein Trauma verdrängt? Wer in Tel Aviv, Jerusalem oder Raanana wohnt, hörte von den Raketenangriffen auf den Süden vor allem in den Medien. Viele Israelis waren aber nie in Sderot, Ofakim oder Be’eri.
Ich weiß nicht, ob ich von Verdrängung sprechen würde. Aber viele Menschen aus dem Zentrum von Israel verstehen nicht wirklich, was es bedeutet, im Süden zu leben. Dabei ist Tel Aviv nur 50 Minuten Autofahrt von Sderot entfernt. Ich wollte mit meinem Buch ein Bewusstsein dafür wecken, was es bedeutet, in Sderot aufzuwachsen, in der Nähe von Gaza – und nicht nur über unsere Opfer und Verluste sprechen, sondern wie das Leben in der Region unseren Alltag geprägt hat.

Sie beschreiben die Natur um Sderot. Was hat sich seit Ihrer Kindheit verändert? Gibt es noch Weizenfelder?
Es gibt einige Kilometer entfernt von Sderot noch ein paar Weizenfelder. Aber auf vielen Böden werden neue Wohnviertel gebaut, denn die israelische Bevölkerung wächst rasant. Ich freue mich, dass Sderot sich weiterentwickelt. Aber manchmal sehne ich mich nach der alten Kleinstadt, in der sich alle untereinander kannten – und in der wir keine Angst haben mussten. Die Weizenfelder waren für mich ein Zeichen von Freiheit. Heute könnte ich nicht mehr in ein Weizenfeld gehen, ohne sofort daran zu denken, wo der nächste Bunker ist.

Ihr Mann, der im Buch Thomas genannt wird, hat Sie bei Ihrem Buchprojekt sehr unterstützt – obwohl Sie offen über Konflikte mit ihm schreiben, die auch mit Ihrem Trauma zu tun haben. Einmal wirft Ihre Heldin Michal ihrem Mann sogar ein Buch an den Kopf …
Mein Mann war trotz allem immer an meiner Seite. Zu einer meiner Lesungen in Israel ist übrigens auch ein General gekommen. Zum Schluss stand der auf und sagte: »Ich salutiere Ihrem Mann!« Da kann ich mich nur anschließen.

Eine der Szenen im Buch, die mich am meisten beeindruckt hat, ist, wie Michal einen Spiegel zerschlägt. Was hat diese Szene zu bedeuten?
In Wirklichkeit ist das etwas anders abgelaufen. Wenn mein Mann mir früher gesagt hat, dass ich schön bin, habe ich ihm ins Gesicht gelacht. Denn als ich in den Spiegel schaute, habe ich nur Hässlichkeit gesehen und Ekel verspürt. Den Spiegel zu zerstören war der Versuch, mich selbst nicht mehr zu sehen, weil ich mich so sehr gehasst habe. Ich wollte gleich am Anfang des Buchs diesen Selbsthass beschreiben. Denn erst, als ich verstanden habe, wie sehr ich mich hasse, wurde mir klar, dass sich etwas ändern muss, damit ich überleben kann.

Ist das etwas, das man vollständig überwinden kann?
Jedenfalls schaue ich jetzt in den Spiegel und denke: »Heute habe ich schöne Locken!« Ich habe jetzt ein viel positiveres Bild von mir selbst als früher. Und ich hoffe, dass mein Buch dazu beitragen kann, dass andere traumatisierte Menschen ihren eigenen Schmerz anerkennen, sich Hilfe suchen und lernen, sich selbst zu lieben.

Mit der Schriftstellerin und Lyrikerin sprach Ayala Goldmann.
Adi Kaslasy-Way: »BeSadot Chita«. Sifrei Niv, Herzliya (Israel) 2023, 258 S., 78 NIS

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