Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn fahre ich mit meinem Bruder und meinem Vater zu unserem Haus im Kibbuz Malkia an der Grenze zum Libanon. Wir haben das Haus seit über einem Jahr nicht gesehen. Und wir haben keinen blassen Schimmer, in welchem Zustand es sich befindet.
Als die beiden mich an der Bahnstation in Haifa einsammeln, und ich sehe, dass mein Bruder am Steuer sitzt, biete ich meinem Vater den Vordersitz an. So wurden wir erzogen, und so erziehe ich auch meine Töchter: Dem oder der Ältesten gebührt der Beifahrersitz. Aber mein Vater besteht darauf, auf der Rückbank zu bleiben. Ich setze mich vorn neben meinen Bruder. Argumentiere nicht. Natürlich nicht. Deines Vaters Wille ist zu respektieren. Aber plötzlich kommt mir diese Sitzanordnung komisch vor, so als wäre er unser Kind, dort auf dem Rücksitz. Und wir seine Eltern.
»Männerausflug«?
Das letzte Mal, als wir – nur die Männer der Familie – eine Reise unternahmen, war vor vielen Jahren, in der Tatra in der Slowakei. Am dritten Tag der Wanderung rutschte ich auf Eis aus und verstauchte mir den Fuß. Sie setzten den Wanderweg fort, und ich blieb in unseren Unterkünften zurück, las Bücher, die ich bereits gelesen hatte, wartete darauf, dass sie von ihrem Streckenabschnitt zurückkamen, und dachte insgeheim, dass diese ganze Idee des »Männerausflugs« ziemlich fragwürdig ist und meine Mutter mir wirklich fehlt.
Meine Mutter begleitet uns auch jetzt nicht, auf dem Weg nach Malkia. Sie ist gegen diese Fahrt. Obwohl die Feuerpause mit dem Libanon schon über einen Monat anhält, ist sie der Meinung, es wäre zu früh, das Haus an der Grenze zu besuchen. Dass noch immer eine fehlgeleitete Rakete einschlagen und ausgerechnet uns treffen könnte.
Meine Mutter war auch diejenige, die sich kategorisch gegen die Möglichkeit aussprach, mit meinem Vater nach Malkia zu ziehen, wenn meine Eltern in Rente gehen. Mein Vater hatte fast zehn Jahre seines Lebens in den Bau des Hauses seiner Träume investiert, im neu erweiterten Teil des Kibbuz. Als der Bau fertig war, kam meine Mutter, um sich das Ergebnis anzusehen, bemerkte den Grenzzaun, der nur ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt verläuft, und entschied: Neben der Hisbollah wohne ich nicht!
Putz fällt von den Decken auf die Möbel, bedeckt sie mit einer weißen Schicht. Als hätte es geschneit.
Mein Vater unterwarf sich ihrem Urteil, weigerte sich aber, das Haus zu verkaufen. (Die Fähigkeit beider, genau zu wissen, wann sie Zugeständnisse an den Partner machen müssen, ist wohl eines der Geheimnisse ihrer Beziehung.) Bei dem Haus handle es sich schließlich, so erklärte er, um sein Lebenswerk.
Lebenswerk und zweites Zuhause unserer ganzen Familie
Doch de facto ist das Haus in Malkia zum zweiten Zuhause unserer ganzen Familie geworden. Manchmal ist es vermietet, manchmal kommen Airbnb-Gäste, aber die meiste Zeit steht es der Familie zur Verfügung. Jedes Mal, wenn mir die Luft ausging; wenn ich Zeit allein brauchte; wenn ich ein Buch redigieren musste; wenn ich den Lockdowns während Corona entkommen wollte – jedes Mal fuhr ich nach Malkia. Und wenn ich in den blühenden Garten hinaustrat, die kühle, galiläische Luft in meine Lungen einsog und auf den Hermon schaute, kam ich zur Ruhe.
Jetzt drehe ich mich zu meinem Vater um und frage (besser gesagt, schreie, damit er mich hört), ob er wüsste, wie es dem Garten geht. Er antwortet, der Gärtner sei in den ersten zwei Monaten des Krieges zwar noch gekommen, aber dann sei auch sein Dorf mit Raketen beschossen worden. Er habe seine Siebensachen gepackt und sei mit seiner Familie ins Landeszentrum geflohen.
Und seitdem hat sich niemand um den Garten gekümmert?, frage ich. Mein Vater nickt traurig. Und fügt hinzu, dass der Kibbuz irgendwann auch die Wasserversorgung für die Bewässerungsanlagen eingestellt habe.
Entlang des Weges sind Erinnerungen verstreut
Als wir in Nahariya ankommen, biegen wir nach rechts ab und fahren entlang der Grenze. Waze, das israelische Navigationssystem, läuft erfreulicherweise ohne Probleme, nachdem seine Funktion während des Krieges im Norden des Landes schweren Störungen ausgesetzt war.
Entlang des Weges sind Erinnerungen verstreut: Dort las ich, zu Beginn des Krieges, einer Gruppe an Reservisten eine Geschichte vor. Dort, im Drusendorf Hurfeish, in dem wir immer Samosa aßen, ist eine Sprengstoffdrohne eingeschlagen, hat einen Soldaten getötet und viele weitere Menschen verletzt. In dem Wadi dort, in den Hügeln hinter Hurfeish, bin ich mit meinen Töchtern gewandert, als sie noch klein waren, und wir haben eine Höhle gefunden. Und in diesem Moschaw dort habe ich Äpfel gepflückt, um mir meine Reise nach der Armee zu finanzieren.
Galit, unsere Nachbarin in Malkia, schickt mir eine Nachricht. Sie sind schon im Kibbuz, sind vor uns angekommen. Und?, schreibe ich ihr. Wie steht’s um euer Haus?
Ratten und anderes Getier sind ins Haus gekommen und wie ein Orkan hindurch gefegt
Ein Albtraum, antwortet sie. Ratten und anderes Getier sind über ein Loch im Dach ins Haus gekommen und wie ein Orkan durchs Haus gefegt – es gibt kein Wohnzimmer, keinen Kühlschrank mehr. Alles aufgefressen, zertrampelt, zerfetzt. Ich war nicht in der Lage, es genauer anzusehen, also bin ich raus in den Garten. Aber auch der ist völlig zerstört. Alle Pflanzen sind tot. Wann seid ihr da?, fragt sie.
In 15 Minuten sind wir bei euch, schreibe ich zurück und erzähle meinem Vater und Bruder, was Galit mir berichtet hat. Angespannte Stille breitet sich im Auto aus. Wird sich auch unser Haus in diesem Zustand befinden? Vielleicht ist es sogar noch schlimmer? Vielleicht wurde es gar von einer Rakete getroffen, und es ist eingestürzt? Und die sanfte Galit wollte den auf uns wartenden Kummer noch um ein paar Momente aufschieben?
Am Eingangstor des Kibbuz steht ein Soldat. Wohin?, fragt er uns. Nach Hause, antworten wir. Er fragt nach unserem Namen, überprüft seine Listen und öffnet das Tor.
Haushälften stehen entblößt da
Wir fahren langsam, wollen so viele Details wie möglich wahrnehmen. Hinter dem Tor steht eine neue Wachhütte, betoniert, für das Sicherheitspersonal. Der Pferdehof ist leer. Auf den Wegen des Kibbuz sehen wir Soldaten. Ausschließlich Soldaten. Die Baustellen im neu erweiterten Teil des Kibbuz sind verlassen. Haushälften stehen entblößt da. Der Spielplatz ist intakt. Aber es gibt keine Kinder, die dort spielen.
Im zweiten Kreisverkehr biegen wir nach rechts ab, und innerhalb weniger als einer Minute sehen wir unser Haus vor uns. Es steht noch immer. Erleichtert atmen wir auf. Aber was im Hausinneren vor sich geht, das werden wir erst sehen müssen.
Mein Vater steigt langsam aus dem Auto. Geht mit schweren Schritten hinüber zum Haus. Gebeugt. Wir warten auf ihn, gestehen ihm sein Recht zu, als Erster einzutreten.
Im Inneren des Hauses hat sich – scheinbar – nichts geändert. Als wäre es in der Zeit stehen geblieben. Der Kühlschrank steht an Ort und Stelle. Die Bilder hängen an der Wand. Der Fernseher ist da, wo er sein sollte. Aber in den darauffolgenden Minuten wird uns bewusst, dass der erste Eindruck trügerisch war.
In manchen Zimmern scheint es, als hätte es im Haus geschneit
Die Wände sind mit Rissen übersät, wahrscheinlich wegen der durch die Raketeneinschläge ausgelösten Erschütterungen. Putz ist von den Decken auf die Möbel gefallen, bedeckt sie mit einer weißen Schicht. In manchen Zimmern ist alles so weiß, dass es scheint, als hätte es im Haus geschneit. Das Fenster in einem Zimmer ist zerbrochen. Das Wasser ist noch immer abgestellt. Und der Garten, der Garten: Alles in ihm ist verwelkt. Das Gras ist gelb. Die Blumen sind vertrocknet. Die Bäume niedergedrückt.
Unsere Nachbarin Galit schließt sich uns an, und gemeinsam mit ihr schauen wir hinüber zum schneebedeckten Hermon und auf den nahe gelegenen Grenzzaun. Sie erzählt, dass die Armee eine Militärbasis im Kibbuz errichten wolle, am Ende unserer Häuserreihe. Und dass die Freunde im Kibbuz sich darüber streiten. Sie fragt meinen Vater, was er denkt. Und der hält inne, bevor er antwortet – als Jugendlicher war er ein hervorragender Schachspieler, ein Spiel für Menschen, die lange abwägen, bevor sie Entscheidungen treffen –, und sagt dann: Es gibt keine andere Wahl. Es muss wieder ein Gefühl der Sicherheit hergestellt werden.
Etwas anderes, Tieferes, ist in diesem Krieg zerbrochen. In 1000 Teile zersplittert.
Danach setzten wir uns an den mit weißem Putz bedeckten Esstisch und überlegen, wie wir mit der Renovierung anfangen sollen. Wir rufen Leute an, die gute Beziehungen haben. Mein Vater und mein Bruder haben dieselbe Geschwindigkeit in solchen Dingen. Eine andere als die meine. Früher hat mich das verrückt gemacht. Und heute – ja, auch heute gibt mir das noch immer das Gefühl, dass zwischen den beiden ein Bund besteht, der mich ausschließt.
Später wird es kalt. Die Heizung funktioniert nicht. Und ich habe meiner Mutter versprochen darauf aufzupassen, dass mein Vater sich nicht verkühlt. Also steigen wir ins Auto und fahren los.
Dieses Mal fahre ich. Mein Bruder sitzt auf dem Beifahrersitz. Und mein Vater wieder wie ein Kind auf dem Rücksitz. Über den Bergen Galiläas geht die Sonne unter. Wir reden kaum. Jeder ist damit beschäftigt, die Ereignisse des Tages zu verdauen.
Ich denke mir: Das Haus werden wir wieder reparieren können. Das ist eine Sache von ein paar Monaten, maximal einem halben Jahr. Das Wasser wird wieder fließen. Die Blumen werden wieder blühen. Im Frühling wird man dort wahrscheinlich wieder schlafen können. Aber etwas anderes, Tieferes, ist in diesem Krieg zerbrochen. In 1000 Teile zersplittert. Und es wird viel länger dauern, es zu reparieren.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Lucia Engelbrecht