Jiddisch

Die »verdorbene Sprache« lebt

Jiddisch als Weltkultur: das Musical »Fiddler on the Roof« (dt. Anatevka) Foto: JA

Sie und ihr Kollege Roland Gruschka hätten kein Buch für ein Fachpublikum schreiben wollen, sondern für eine breite, am Jiddischen beziehungsweise an jüdischer Ge- schichte und Kultur interessierte Leserschaft, betont Marion Aptroot, Professorin für Jiddische Kultur, Sprache und Literatur an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Und das ist den beiden mit ihrem Buch Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache zweifellos gelungen.

sterbend Man muss weder Literaturwissenschaftler noch mit Jiddisch besonders vertraut sein, um aus dem Buch spannende Erkenntnisse zu gewinnen. Es bietet eine historische Einführung von den ältesten mittelalterlichen Texten bis heute sowie die Einordnung einer Sprache, die zwar schon oft für tot erklärt wurde, aber, wie die Autoren es ausdrücken, »zwar zu den gefährdeten, nicht aber zu den sterbenden Sprachen gehört«.

Die Geschichte der Sprache spiegelt immer auch die Geschichte der Juden: freiwillige oder erzwungene Wanderbewegungen, Begegnungen mit den Sprachen der jeweiligen Umgebung, kulturelle und politische Bestrebungen. So war Jiddisch für fast tausend Jahre die Muttersprache der aschkenasischen Juden und als solche im Mittelalter in Mittel- und Osteuropa weit verbreitet.

hebräisch Als sogenannte Komponentensprache enthält Jiddisch insbesondere viele Elemente aus dem Mittelhochdeutschen, aus slawischen Sprachen, dem Hebräischen und Aramäischen. Jiddische Muttersprachler sind sich dieser verschiedenen Komponenten bewusst und nutzen sie je nach eigenen Vorlieben oder Kontext. So wird beispielsweise ein jüdischer Friedhof mit einem Wort hebräischen Ursprungs bezeichnet, während für einen christlichen ein Wort aus der slawischen Komponente gebraucht wird.

Da Juden im Mittelalter immer wieder verfolgt und diskriminiert wurden, gab es viele unfreiwillige Wanderbewegungen, und Jiddisch veränderte sich im Kontakt mit der jeweiligen Landessprache. Trotzdem konnten Bücher im 16. und 17. Jahrhundert eine internationale Leserschaft erreichen, indem die Autoren sich bemühten, auf regional geprägte Begriffe zu verzichten.

verdorben Im 18. Jahrhundert gab es unter Juden starke Bestrebungen, Jiddisch zugunsten der jeweiligen Landessprache aufzugeben, um eine bessere Integration zu erreichen. Bei den Vertretern der jüdischen Aufklärung galt Jiddisch gar als »verdorbene Sprache«. Auch fromme Gruppen wie die der Chassidim förderten nicht unbedingt Jiddisch, da ihnen Hebräisch als heilige Sprache wertvoller erschien.

Trotzdem entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine lebendige jiddische Literatur mit namhaften Autoren wie beispielsweise Scholem Alejchem (Tewje der Milchmann). Gleichzeitig war es die Zeit großer Auswanderungen, zum Beispiel in die USA, was auch zu englischen Einflüssen auf das Jiddische führte. Das Buch nennt als Beispiel das Wort »afórdn« für »sich leisten (können)«, das unmittelbar dem englischen »to afford« entlehnt ist.

nazis Der nationalsozialistischen Judenverfolgung fielen Jiddischsprecher in großer Zahl zum Opfer. Somit sei es unmöglich, zu sagen, so die Autoren, »wie die Geschichte des Jiddischen in Europa ohne den Völkermord an den Juden verlaufen wäre«.

Nach dem Krieg versuchten Überlebende, Zeitungen auf Jiddisch zu gründen und Bücher zu veröffentlichen, oft um das jüdische Leben vor dem Krieg zu dokumentieren und von der Verfolgung Zeugnis abzulegen. In Israel wurde nach der Staatsgründung zunächst Jiddisch eher unterbunden, weil die Entscheidung für Hebräisch als Nationalsprache gefallen war und eine Konkurrenz durch Jiddisch befürchtet wurde.

schulsprache So gibt es erst seit 1988 Jiddisch an einigen staatlichen Gymnasien als Wahlfach. Heute leben die meisten Sprecher des Jiddischen in Israel und den USA. Dort wird Jiddisch vor allem von den Charedim gesprochen, traditionalistisch-orthodoxen Juden. Und da ihre Familien oft sehr kinderreich sind, könnte Jiddisch so auch wieder aufleben.

Jiddisch sei keine sterbende Sprache, schlussfolgern die Autoren, und weisen darauf hin, dass niemand um das Überleben der isländischen Sprache fürchtet, obwohl sie von nur etwa 320.000 Menschen gesprochen wird. Dass Isländisch im Gegensatz zu Jiddisch Nationalsprache eines Landes ist, zeigt für Marion Aptroot, dass es letztlich auf die Umstände ankommt. Und diese Umstände in der wechselvollen Geschichte der Juden machen sie und ihr Mitautor in ihrem neuen Buch anschaulich klar.

Marion Aptroot, Roland Gruschka: Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache. Becksche Reihe, München 2010, 192 S., 11,95 Euro.

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